Literarisches Colloquium Berlin

Neues von der Post-’89er-Generation

19. Januar 2011
Redaktion Börsenblatt
„Zum Stand der deutschen Literatur“ lautete der doppeldeutige und fast ein bisschen anmaßende Titel einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin, die aufgrund der Renovierungsarbeiten in der Villa am Wannsee im Collegium Hungaricum in Berlin-Mitte stattfand. Auf dem Podium: Katja Lange-Müller, Ingo Schulze und Marcel Beyer. Für boersenblatt.net berichtet Ulrich Rüdenauer.

Allerdings ging es weniger um den Stellenwert der Literatur nach der Zäsur des Mauerfalls als vielmehr um den Standort, von dem aus geschrieben wird: Die letzten 20 Jahre Literaturgeschichte sollten unter diesem Gesichtspunkt aufgearbeitet werden – von drei Autoren, die sie wesentlich mitgeprägt haben: Katja Lange-Müller, Ingo Schulze und Marcel Beyer.

Welche Rolle spielt der Standort eigentlich heute noch, wollte Moderator Jörg Magenau gleich zu Beginn wissen, und damit von den Diskutanten freilich auch erfahren, ob die Trennung von Ost- und Westliteratur überhaupt noch Relevanz besitze. So richtig mochte sich keiner der Diskutanten auf diese häufig geführte Debatte einlassen. Westtexte oder Osttexte – das habe doch letztlich nie eine große Bedeutung gehabt. Es gehe vielmehr um Literatur, die sich auf einen zu- oder wegbewegt, so Katja Lange-Müller. Und dass Marcel Beyer 1995 aus dem beschaulichen Rheinland Richtung Terra incognita nach Dresden zog, hatte wohl auch vielmehr mit der Sehnsucht nach fremdem Terrain zu tun, das sich fürs Schreiben fruchtbar machen ließ, als mit einer spezifischen Ostfaszination. Allerdings: Dieser Reibung schaffende „innere Osten“ dürfte mittlerweile schwieriger zu finden zu sein. Europa sehne sich stark nach festen Strukturen, „und das hat mich noch nie interessiert“, sagte Beyer.

Ingo Schulze, dem nachgesagt wird, mit „Neue Leben“ den wichtigsten „Wenderoman“ geschrieben zu haben, kann schon mit diesem Begriff nichts anfangen: Das klinge immer so, als könne man Literatur schlicht nach Inhalten bestimmen. Das aber werde ihr nicht ansatzweise gerecht. Schon das Podium selbst schien der beste Beweis für die Auflösung von allzu simplen Ost-West-Unterteilungen – Marcel Beyer erinnerte zwar daran, dass es kurz nach 1989/1990 gar nicht so einfach gewesen sei, sich mit Autoren aus der ehemaligen DDR zu unterhalten. Man habe das Gefühl gehabt, sich auf einem Minenfeld zu bewegen. Das ist aber längst überwunden. Das Trio bewies auch, dass literaturwissenschaftliche Einteilungsversuche oftmals schon an der Individualität von Autorencharakteren und Schreibweisen scheitern müssen. Die drei lasen mit je eigener literarischer Stimme solch unterschiedliche Texte vor, dass Klassifikationen und Generationenmuster schwerlich herzustellen sind.

Trotzdem stand am Ende noch einmal die Frage nach der Post-’89er-Generation, und Marcel Beyer stellte die gewagte, gleichwohl schlüssige These auf, dass die eigentliche Scheidelinie eben nicht zwischen Ost- und Westautoren verlaufe, sondern zwischen jenen, die in den achtziger Jahren mit Privatfernsehen aufgewachsen seien und denen, die die Welt anhand von nur drei Programmen gespiegelt sahen. Und selbst hier kein Widerspruch von Ingo Schulze und Katja Lange-Müller. „Es gibt Dinge wie Fernsehen oder Handy oder Internet“, meinte sie, „die das Leben auf nicht minder wichtige Weise beeinflussen wie politische Ereignisse.“ Dass bei einer jüngeren Autorengeneration die „Fernbedienung in der Hand immer mitschreibt“ und die mediale Wirklichkeit sehr viel stärker aufs Bewusstsein durchschlage, darüber waren sich alle einig. Imaginäre und wirkliche Welt würden immer weniger als Alternative empfunden, was die Wahrnehmung tiefer prägen kann als ein Systemwandel. Fast 22 Jahre nach dem Mauerfall können also langsam wieder andere Themen diskutiert werden.