Literaturwissenschaft ist im Gegensatz zum Lektorat kein Kunsthandwerk. Sie beschäftigt sich mit Interpretationsverfahren wie Hermeneutik, Close Reading, sucht und findet Intertextualitäten, Motivgeschichten und Verwandtschaften zu anderen Literaturen (Komparatistik). Sie richtet das Augenmerk auf Grundformen der Sprache, Grammatik, Etymologie, Rhetorik, Rhythmus, Metrik. Sie umfasst Theorien des Ordnens, wie die Identifikation und Beschreibung von Gattungen und Genres.
So präzise die Literaturwissenschaften oft arbeiten und das auch tun müssen. Das muss nicht unbedingt Auswirkungen auf ihre ästhetische Urteilsfähigkeit von Gegenwartstexten haben. Literaturwissenschaftler werden nicht darauf trainiert, herauszufinden, ob Texte publikationswürdig sind und ob sie in produktiver Dialogizität mit dem aktuellen soziohistorischen Kontext stehen. Allerdings, und das macht sie wirkmächtig, ist Literaturwissenschaft auch die Instanz, die publizierte Literatur lang- oder kurzfristig kanonisiert, d.h. in den Korpus der Nationalliteratur aufnimmt.
An dieser Schnittstelle kommt es naturgemäß zu Konflikten. Der Lektorin fällt auf, dass in der zeitgenössischen Kritik hochgelobte Werke in der Kanonisierungsarbeit der Literaturgeschichtsschreibung langfristig nicht mehr auftauchen oder unter "Ferner liefen..." abgehandelt werden. Die Autoren der Kompendien von Gegenwartsliteratur weisen im Gegenzug auf den ordnenden historischen Abstand hin, der ihnen die Beurteilungskompetenz ermögliche. An dieser Stelle können die für die historische Forschung erschlossenen Verlagsarchive vermittelnde Kenntnis bereitstellen. Sie sind Referenzsysteme für die große Arbeit am kollektiven Literatur-Gedächtnis, das auch immer ein Gedächtnis von historischen Umbrüchen und Verschiebungen ist. Langfristiger als Kanonisierungsformen, die jeweils zeitgenössischen Bewertungs- und Beurteilungskonjunkturen unterworfen sind, können sie als Modus von "Checks and Balances" korrektiv genutzt werden und möglicherweise bei der Re-Kanonisierung zwischenzeitlich fallengelassener Autoren und Werke wertvolle Materialien zur Neubewertung erschließen.