XVI. Mainzer Kolloquium

Die Arbeit an der Literatur zwischen Lektorat und Wissenschaft

30. Januar 2011
Redaktion Börsenblatt
Am Freitag fand unter dem Titel "Ungeöffnete Königsgräber" das XVI. Mainzer Kolloquium am Institut für Buchwissenschaft der Uni Mainz statt. Im Mittelpunkt standen Chancen und Nutzen von Verlagsarchiven für die Branche, die Wissenschaft und die Öffentlichkeit. Eine der Referenten war Gabriele Dietze. boersenblatt.net hat mit der Amerikanistin und Lektorin darüber gesprochen, welche Instanzen Literatur beurteilen und welche Funktion dabei das Verlagsarchiv haben kann.
Zur Beurteilung von Texten können weder Lektorat noch Literaturwissenschaft völlige Deutungsmacht beanspruchen. Eine Lektorin denkt auf der handwerklichen Seite über die Perfektionierung einer angenommenen Textvorlage nach. Auf der kommerziellen Seite wägt sie Aktualität, Interessantheit und damit Verkäuflichkeit ab. Und auf der konzeptuellen Ebene denkt sie programmatisch: Welche Tradition hat ihr Haus, welche programmatischen Zuspitzungen sollen bedient werden oder welche neue Felder erschlossen werden. Die Aufgabe der Lektorin in Zusammenarbeit mit dem Autor ist es, die Absichten und Potentiale des Werkes herauszuarbeiten und vor narrativen und stilistischen Verfehlungen zu bewahren. Bei der Kunst des Lektorats handelt es sich meist um intuitives, sogenanntes "weiches" Wissen, das im Zwiegespräch mit dem Autor entwickelt wird und vor allem sehr individuell von der Textsorte und dem Sprachgestus des einzelnen Autors abhängig ist.

Literaturwissenschaft ist im Gegensatz zum Lektorat kein Kunsthandwerk. Sie beschäftigt sich mit Interpretationsverfahren wie Hermeneutik, Close Reading, sucht und findet Intertextualitäten, Motivgeschichten und Verwandtschaften zu anderen Literaturen (Komparatistik). Sie richtet das Augenmerk auf Grundformen der Sprache, Grammatik, Etymologie, Rhetorik, Rhythmus, Metrik. Sie umfasst Theorien des Ordnens, wie die Identifikation und Beschreibung von Gattungen und Genres.

So präzise die Literaturwissenschaften oft arbeiten und das auch tun müssen. Das muss nicht unbedingt Auswirkungen auf ihre ästhetische Urteilsfähigkeit von Gegenwartstexten haben. Literaturwissenschaftler werden nicht darauf trainiert, herauszufinden, ob Texte publikationswürdig sind und ob sie in produktiver Dialogizität mit dem aktuellen soziohistorischen Kontext stehen. Allerdings, und das macht sie wirkmächtig, ist Literaturwissenschaft auch die Instanz, die publizierte Literatur lang- oder kurzfristig kanonisiert, d.h. in den Korpus der Nationalliteratur aufnimmt.

An dieser Schnittstelle kommt es naturgemäß zu Konflikten. Der Lektorin fällt auf, dass in der zeitgenössischen Kritik hochgelobte Werke in der Kanonisierungsarbeit der Literaturgeschichtsschreibung langfristig nicht mehr auftauchen oder unter "Ferner liefen..." abgehandelt werden. Die Autoren der Kompendien von Gegenwartsliteratur weisen im Gegenzug auf den ordnenden historischen Abstand hin, der ihnen die Beurteilungskompetenz ermögliche. An dieser Stelle können die für die historische Forschung erschlossenen Verlagsarchive vermittelnde Kenntnis bereitstellen. Sie sind Referenzsysteme für die große Arbeit am kollektiven Literatur-Gedächtnis, das auch immer ein Gedächtnis von historischen Umbrüchen und Verschiebungen ist.  Langfristiger als Kanonisierungsformen, die jeweils zeitgenössischen Bewertungs- und Beurteilungskonjunkturen unterworfen sind, können sie als Modus von "Checks and Balances" korrektiv genutzt werden und möglicherweise bei der Re-Kanonisierung zwischenzeitlich fallengelassener Autoren und Werke wertvolle Materialien zur Neubewertung erschließen.