Zur Vorgeschichte: Die kanadische Université du
Québec à Chicoutimi stellt auf ihrer Website Werke von
Albert Camus zur Verfügung – nach kanadischem Recht vollkommen unstreitig, denn die Schutzfrist für geistige Eigentumsrechte erlischt hier 50 Jahre p.m.a. und Camus starb bereits 1960. Die kulturbeflissene französische Buchnation läuft nun dagegen Sturm – oder jedenfalls der (ehemalige) Verlag Camus, Gallimard. Denn in Frankreich verfallen die Ansprüche der Verwerter erst 70 Jahre p.m.a., sodass sich bspw. die Sorbonne noch 20 Jahre gedulden müsste, bis sie Texte von Camus in ihr öffentlich zugängliches Online-Archiv einstellen dürfte.
In (vermutlich höchstens mittelbarer) Gefahr sind also Verwerterrechte. Und wie immer kommt hier rasch die Idee von Netzsperren auf: Roesler-Graichen zieht in seinem Artikel den Vergleich zu einem Fall von 2002, im Zuge dessen Yahoo zur Sperrung einer Website für französische Nutzer verdonnert wurde. Nun wissen wir, dass gerade Frankreich in Sachen Urheberrecht gerne als kulturkonservativer Hardliner auftritt, also stehen die Chancen nicht schlecht, dass auch in diesem Fall ein Gericht zugunsten des Verwerters entscheidet. Die praktische Konsequenz könnte etwa sein, dass Provider den einfachen Zugriff auf die Website verhindern. Das freilich hält versierte Nutzer nicht ab, denn bekanntermaßen ist die Umgehung von Netzsperren eine technisch eher leichte Übung – etwa über nicht-französische Proxies oder Anonymisierungsdienste. In das alte Lamentieren über die Gefährlichkeit von Netzsperren will ich hier gar nicht erst mit einfallen, denn in Frankreich ist dieser Zug abgefahren und die Zensurinfrastruktur bereitgestellt.
Die andere Frage: Lässt sich das Problem legislativ angehen, wie im Aufreger gefordert? Auf symbolischer Ebene klappt das zwischen westlichen Industrienationen vielleicht wirklich – was dann wohl zur Folge hätte, dass Kanada aufgrund internationalen Drucks seine Schutzfristenregelung ausweiten müsste. Denn es steht kaum zu erwarten, dass andere Staaten die ihren verkürzen. Sinnvoll ist das vermutlich nicht, denn bereits die heutigen 70-Jahre-Regelungen erscheinen als Schutz der Rechte eines Urhebers exorbitant lang. Manifesten Rechtsschutz bietet das aber noch lange nicht. Über
bittorrent-Dienste oder Filesharer etwa erhält man mit ein wenig Suche einen großen Teil der Werke Camus in allerlei Sprachen, je nach verwendeter Recherchemethode – mit einer legislativen Lösung, die nur Universitäten und deren Online-Archive bedenkt, kann dem nicht begegnet werden. Eine globale Lösung ist zudem eher unwahrscheinlich – zu viele Staaten würden hier nicht mitziehen, darunter auch viele, die ein Urheberrecht oder Copyright haben, das kürzere Fristen vorschreibt. Auf praktischer Ebene ist das Problem also auf absehbare Zeit unlösbar.
Wäre eine solche Lösung aber wirklich wünschenswert und „im Interesse aller“, wie im Aufreger zu lesen ist? Wohl kaum. Einzig Verwerter würden davon wirklich profitieren; Autoren ist naturgemäß recht egal, was 50 oder 70 Jahre nach ihrem Tod geschieht, und auch die Nachfahren sind bis dahin schon zwei Generationen weiter – es ist gerade für Nutzer kaum einzusehen, warum diese noch profitieren sollten. Das Interesse der Gesellschaft überwiegt hier deutlich das Interesse am Genuss der Früchte des großelterlichen Schaffens. Roesler-Graichen argumentiert weiter, die aktuelle Regelung sei für Verbraucher nicht befriedigend: „Die Verantwortung [für die Rechtmäßigkeit des Downloads, D.S.] wird damit einseitig auf den Nutzer abgewälzt.“ Fraglich, ob der Nutzer das auch so sieht – ihm wird die Wahlfreiheit gelassen, was legislative Projekte genau unterbinden wollen. Strafbar macht sich der Nutzer wohl kaum, jedenfalls in Deutschland dürfte das unter die Schranke der Privatkopie fallen – und als Universitätswebsite ist die Quelle auch nicht „offensichtlich rechtswidrig“. Jedenfalls noch nicht.
Ein Vorteil der digitalen Globalisierung sticht auch ins Auge: Zum ersten Mal wird dem Trend Einhalt geboten, Schutzfristen immer weiter zu verlängern. Denn plötzlich muss sich jeder, der digitale Rechte schützen möchte, an demjenigen Land orientieren, das die kürzesten Fristen hat. In der „+50“-Gruppe – also der Gruppe jener Staaten, deren geistiges Eigentumsrecht einen Schutz 50 Jahre p.m.a. vorsieht – finden sich neben Kanada auch China, Neuseeland, Korea und ironischerweise der US-besetzte Iran. (Siehe
Übersicht über Schutzfristen). „Vorreiter“, man könnte auch sagen Streber, ist aktuell Mexiko mit einer Schutzfrist von 90 Jahren p.m.a. Derart lange Fristen wecken sicher bald Begehrlichkeiten bei Verwertern anderer Nationen. Der „Fall Camus“ macht jedoch deutlich, dass diese nur eingeschränkt durchsetzbar sein werden – was die entsprechende Lobbyarbeit für Gesetzesänderungen weit weniger attraktiv machen dürfte.