Bildung ist ein Dauerthema in unserer Branche. Ausbildung auch. Aber vernachlässigen wir dabei nicht den Aspekt der Führungsverantwortung?
Helena Bommersheim: Uns wird immer wieder die Frage nach dem Top-Nachwuchs gestellt: Wo bekommen wir die Leute her, die in fünf Jahren die Führungsjobs übernehmen sollen? Aus welchen Studiengängen kommen sie? In welchen Unternehmen gibt es geeignete Strukturen, junge Menschen in Führungspositionen hinein zu entwickeln?
Antonia Bürger: Vielleicht fehlt uns auch noch die Klarheit, wen wir eigentlich suchen. Denken Sie nur an den Programm-bereich. Das Spektrum der Qualifikationen ist größer geworden. Neben dem klassischen Buch denken wir heute zunehmend über crossmediale Produkte nach: Wie kann ich meine Inhalte über welche Kanäle in welcher Produktform vertreiben? Ich suche zum Beispiel nicht mehr nur einen Lektor, der sich intensiv mit einem Text befasst und gemeinsam mit dem Autor ein Buch entwickelt. Ein Lektor ist heute eine Art Produktmanager.
Thomas Wagner: Bei uns sprechen wir eher vom Projektmanager. Der Redakteur managt ein Projekt. Im Rahmen seines umfassenden Aufgabengebiets vergibt er bestimmte Teilprojekte nach außen und arbeitet selbst sehr konzeptionell. Er muss in der Prozessplanung die ganzen neuerdings auch elektronischen Aspekte im Blick haben. Alles muss im Übrigen erheblich schneller gehen als früher. Das fordert die Mitarbeiter schon sehr. Dies versuchen wir durch entsprechende Weiterqualifizierungsprogramme auszugleichen.
Isabel Thielen: Die Grenzen verschwimmen. Wo verläuft die Linie zwischen Lektorat und Vertrieb? Es ist nicht immer klar, wer die U4-Texte schreibt: Eher Sache des Lektors, oder hat das mehr mit Marketing zu tun? Wir sind in einer Phase, in der sich die Profile verändern, aber noch sind sie nicht eindeutig definiert und werden vielleicht auch gar nicht mehr so scharf abgegrenzt. Marketing beginnt in dem Moment, wo ein Buch eingekauft wird. Deshalb brauchen Sie unter Lektoren auch den Typus, der den schnellen Markt cool findet und der Spaß hat, sich um die Verkäuflichkeit eines Buches zu kümmern.
Wagner: Diese Entwicklung haben wir bei Ravensburger auch erlebt. Da reichte es eines Tages nicht mehr, einfach schöne und gute Bücher zu machen, sondern sie sollten auch gut verkäuflich sein. Die Mitarbeiter müssen sich immer mehr intern abstimmen. Die Projekte werden zudem strategisch angegangen, indem der Markt und die Konkurrenz analysiert werden. Die Bedürfnisse und Wünsche der Zielgruppe sind eine zentrale Fragestellung für die Redakteure.
Gerlinde Leichtfried: Wenn wir für Thalia Führungsnachwuchs suchen, tun wir das zunehmend auch außerhalb der Buchbranche. Denn wenn wir die gesamte Handelslandschaft betrachten, gibt es bei entscheidenden Themen wie Kundenorientierung, Systemunterstützung und Prozessorientierung auch Branchen, die den Umbruch, vor dem wir jetzt stehen, bereits hinter sich haben. Hier erhoffen wir uns neue Impulse gepaart mit professionellem Retail-Know-how. Es ist uns jedoch enorm wichtig, eine gesunde Mischung aus internem und externem Wissen hinzubekommen. Daher suchen wir auch intern Mitarbeiter, welche in den relevanten Bereichen Potenzial und Begeisterung mitbringen und ermög-lichen ihnen, sich Richtung Führungsposition zu entwickeln.
Welche Profile sind auf Filialebene gesucht?
Leichtfried: Auf Filialebene geht es um die Fähigkeit, die Bedürfnisse der Kunden zu erkennen und ihnen gerecht zu werden. Es stellt sich die Frage, wie wir eine allzu starke Produktorientierung nach dem Motto: Was gefällt mir als Buchhändler gut?, überwinden können. Wir brauchen Mitarbeiter, die in der Lage sind, die Kundenbrille aufzusetzen und zu fragen: Wie gestalte ich mein Sortiment so, dass es meine Kunden anspricht?
Verkäuflichkeit muss also auf Produzentenseite ein ebenso wichtiges Thema werden, wie es das auf Händlerseite ist?
Leichtfried: Unbedingt. Für andere Branchen ist das schon eine Selbstverständlichkeit, für unsere noch nicht. Wir müssen vom klassischen Einkaufsmodell wegkommen und bereits in der Produktentwicklung überlegen, wie sich die gesamte Wertschöpfungskette für Kunden attraktiv gestalten lässt. Aus meiner Sicht liegt hier ein großes Handlungsfeld vor uns, das auf Produzentenseite noch zu wenig bedacht wird.
Thielen: Bei uns galt lange die Devise: Wir müssen die Bücher so machen, dass sie den Buchhändlern gefallen, denn das sind unsere Kunden. Da stellen sich einem irgendwann Fragen: Ist der Buchhändler das Nadelöhr? Denkt der Buchhändler wie der Leser?
Bürger: Aber ist es nicht vielmehr so, dass wir gemeinsam, Handel wie Produzenten, auf den Endkunden zugehen müssen – gerade in Zeiten, in denen sich Kaufentscheidungen immer öfter online abspielen, dort also, wo der Kunde auf sich gestellt entscheidet? Ich denke, es bedarf neuer Tools, die uns helfen, in Erfahrung zu bringen, was unser gemeinsamer Kunde von uns will.
Leichtfried: Ich glaube, wir haben alle noch viel zu wenig Ahnung davon, wer unser Kunde überhaupt ist. Es gibt eine Menge Informationen, die den Lieferanten vorliegen, aber auch wir Händler verfügen über einen Datenpool. Die Crux daran: Den Kunden gibt es nicht mehr. Vielmehr beobachten wir eine enorme Spezialisierung und Diversifizierung, insbesondere im Internet-Bereich. Eine riesige Chance für uns alle würde darin bestehen, unsere Informationen über die Kunden zusammenzulegen und auszuwerten. Wie groß das Potenzial wirklich ist, machen uns andere Händler bereits vor, die aufgrund von Kundenkarten über jahrelang gesammelte Informationen verfügen. Dies bietet ihnen enorme Möglichkeiten, auf Bedürfnisse angemessen zu reagieren und Kunden gezielt anzusprechen.
Bommersheim: Wenn das Ihre Erwartungshaltung ist – welchen Typus von Mitarbeitern, der so etwas steuert, brauchen wir dann auf beiden Seiten?
Leichtfried: Unsere Leute müssen offen sein für neue Sortimente über das Buch hinaus. Diejenigen, die vor allem gern Bücher verkaufen, tun sich mit den sich verändernden Kundenanforderungen schwer. Wir brauchen Mitarbeiter, die Spaß daran haben, sich mit den Bedürfnissen der Kunden zu beschäftigen und nicht in erster Linie mit dem Produkt. Wir suchen Leute, die gern verkaufen und dabei hinter dem gesamten Sortiment stehen, das wir anbieten. Wir schauen bei der Auswahl weniger nach dem Verhältnis zum Buch, sondern darauf, wie die Bewerber auf Kunden zugehen, mit ihnen umgehen. Es freut uns jedoch auch, zu sehen, dass unsere eigenen Leute hier eine enorme Entwicklung vollzogen haben und dieses Denken und Handeln mit Begeisterung leben.
Die Rollenbilder in Verlagen und im Buchhandel werden also vielfältiger. Wie lassen sich unter diesen Bedingungen noch Teams bilden, die gut kooperieren?
Wagner: Man muss sinnvoll mischen. Bei uns sind es eher die Jüngeren, die sich auf den Bereich Digitalisierung und Neue Medien einlassen. Und es sind eher die Älteren, die auf dem klassischen Weg bleiben wollen. Der geht ja nicht verloren. Beide Gruppen von Mitarbeitern sind für uns wertvoll. Um unter diesen Bedingungen Teams zusammenzubekommen, müssen sie sich der bewährten Instrumente bedienen: Teamentwicklungsseminare durchführen.
Bommersheim: Wir haben ja nicht nur das Problem, dass wir die traditionell Orientierten zu Veränderungen bewegen wollen. Wir stehen zunehmend vor der Schwierigkeit, dass wir die Innovativen nicht mehr für uns gewinnen oder nicht an uns binden können. Wie vermeiden wir es, dass die heute 30- bis 35-Jährigen sagen: Nein, das ist nicht mein Weg, da gehe ich nicht weiter. Oft sind das die Kreativen, Unkonventionellen, die wir dringend in den Unternehmen unserer Branche benötigen. Die empfinden aber eine zu große Enge und gehen dann raus, machen sich selbstständig, erweitern ihre Freiheitsräume.
Bürger: Gerade die, die aus der Richtung des Studiengangs Buchwissenschaft kommen, sind oft ganz stark noch auf die alten Berufsbilder fokussiert. Die denken gar nicht in diesem neuen großen Strauß von Möglichkeiten, was ich alles mit einem Inhalt machen, wie ich ihn entwickeln kann. Das ist genau unser Thema: Wo bekomme ich die Leute her, die Lust haben, anders an die Dinge heranzugehen, sich auch anders zu vernetzen?
Sie wollen sagen, die Buchwissenschaft hat als wichtiger Ausbilder für die Branche den Anschluss verpasst?
Leichtfried: Wir bilden in Seckbach aus, weil das eine hervorragende Schule ist. Aktuell sind wir dabei, nach dem Modell Seckbach auch eine Ausbildung im Bereich Einzelhandel zu konzipieren. Besonders gute Erfahrungen machen wir bei der dualen Ausbildung, die sowohl eine gute theoretische Grundlage bildet als auch die Handelsseite abdeckt. Solche BA-Studiengänge und dualen Studiengänge sind weder zu abstrakt noch zu akademisch. Sie haben auch keinen so hohen Anspruch, dass die Absolventen am Ende keine Lust mehr haben, für Gehälter, die im Einzelhandel bezahlt werden, zu arbeiten. Wir buhlen am Nachwuchsmarkt nicht um Absolventen, die sich bei Unternehmen wie McKinsey oder Boston Consulting bewerben. Attraktive Karrierechancen bieten wir jedoch auch.
Bommersheim: Die Frage nach der universitären Buchwissenschaft ließe sich auch anders stellen: Warum ist unsere Branche gerade für solche Hochschulabsolventen attraktiv, die einem konservativen Verständnis vom Büchermachen anhängen? Warum strahlt unsere Buchbranche mit ihrer großartigen kulturellen Tradition nicht auf junge Leute ab, die in anderer Weise bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, und die einen Sinn haben für neue Möglichkeiten? Das gilt zumal für Verlagsbereiche wie das Marketing, das Controlling, die Herstellung. Da brauchen wir doch gar nicht die Leute, die immer schon Buch gemacht haben.
Thielen: Hier gibt es intern oft ein Dilemma. Einerseits will man immer Leute haben, die in dieser Branche sozialisiert sind; andererseits setzt man auf den frischen Blick und Kick von außen. In der Konkurrenzsituation einer Bewerbung läuft letztlich der Brancheninterne dem Externen dann doch meist den Rang ab.
Wagner: Das kann ich, weil wir bei Ravensburger außer dem Buchverlag noch andere Unternehmens-bereiche haben, bestätigen. Wenn wir in der Vergangenheit für den Buchverlag eine Stelle besetzen wollten und ich sagte, lassen Sie uns doch mal woanders schauen, dann hörte ich schnell skeptische Einwände. Mittlerweile sind wir jedoch auf einem Weg, Mitarbeiter unternehmensübergreifend einzusetzen und weiterzuentwickeln. Dies wird sich nach meiner Überzeugung produktiv und erfrischend auswirken. So wird auch die Durchlässigkeit zwischen den Bereichen gefördert.
Ist das in den Führungsetagen noch verbreitete Bestehen auf Stallgeruch eigentlich nur irrational? Hat es nicht auch einen sehr vernünftigen Kern?
Thielen: Natürlich ist es auch rational. Hier kommt nämlich ein Thema wieder ins Spiel, das wir vorhin schon gestreift haben: der Druck, die Zeit, die wir immer weniger haben. In jemanden, der von außen hinzukommt, müssen Sie erst einmal investieren. Aber dazu sind wir zu selten bereit beziehungsweise können uns den "Aufwand" nicht leisten. Auch deshalb fallen Entscheidungen im Zweifel meist für den Branchen-internen. Wir stehen in unserem Haus vor der Aufgabe, dass wir Leute für den Online-Bereich brauchen, die wir von der Qualifikation her in unseren Buchverlagen nicht finden können. Die gibt es in unserer Branche noch nicht. Da müssen wir uns also von unserem Anspruch auf Stallgeruch verabschieden und fragen: Wo werden denn hier schon Erfahrungen gemacht, die uns nutzen könnten? Aber in dem Moment konkurrieren wir mit anderen Gehältern. Da beginnt dann wirklich der "war for talents".
Bommersheim: Wir müssen uns dem Wettbewerb stellen. Wir brauchen Antworten für das Neue, Digitale, Schnelle – und wir brauchen die Menschen, die diesen Prozess aktiv gestalten wollen.
Bürger: Genau das ist der Punkt – wir müssen die Chancen des stattfindenden Wandels nutzen. Unsere Botschaft muss deshalb lauten: Hier kannst du noch etwas gestalten, hier kannst du etwas aufbauen. Hier gibt es noch Neuland. Natürlich wollen wir auch in Zukunft mit unseren Büchern gute Geschichten erzählen und die Leute begeistern – aber nicht nur mit den Büchern, sondern vor allem mit den Inhalten der Bücher. Nehmen Sie den Bereich Kinderbuch: Hier verschmelzen schon das Geschichtenerzählen mit dem Spielen und dem Lernen. Dass dies eine ganz große Faszination ausmacht, erleben wir in unseren Häusern. Jetzt muss es uns gelingen, diese Attraktion auch nach außen zu kommunizieren.
Thielen: Ich glaube gar nicht, dass wir unattraktiv sind als Branche. Wir haben kein Attraktivitätsproblem, wir haben ein PR-Problem. Draußen ist kaum bekannt, in welch spannender Entwicklung sich unsere Branche befindet. Das ist ein Thema der richtigen Ansprache. Jetzt ist womöglich die Zeit gekommen für ein gezielteres Hochschul-Marketing, das die Verlage machen müssen. Ich sehe das auch gar nicht pessimistisch. Noch ist Zeit. Wenn wir jetzt handeln, ist es gut.
Bommersheim: Schauen Sie sich an, welcher Typus von Unternehmer gerade die Szene rund um das Thema E-Books und Digitalisierung betritt. Da sind viele, die diesen Schritt in die Selbstständigkeit gewagt haben. Fast alles Männer. Und diese kommen zumeist aus dem BWL-Kontext. Uns sagen diese Leute: Die Unternehmensstrukturen sind zu starr und konservativ. Denen kommen die Unternehmen wie Dickschiffe vor. Für ihre eigenen Geschäftsideen brauchen sie aber Schnellboote. Wir geben den guten Leuten nicht die Chance, im Unternehmen zum Unternehmer zu werden.
Wagner: Andererseits müssen wir aber auch ehrlich bleiben und sagen: In großen Häusern gibt es nun mal solche Strukturen, da gibt es relativ verbindliche Entscheidungswege. Wir machen auch manchmal die Erfahrung, dass Leute, die etwa aus einer Selbstständigkeit zu uns kommen, ein Problem mit diesem Abstimmungsaufwand haben.
Bürger: Frustration entsteht nicht nur dort, wo jemand seine Ideen nicht so umsetzen kann, wie ihm das vorschwebt. Frustration entsteht auch entlang des Karrierewegs. Wir haben in unseren Häusern richtig gute Leute in der zweiten Reihe. Die wollen irgendwann weiter, aber wir können ihnen einfach nicht das Adäquate anbieten. Hier nutzen wir die Kraft der Gruppe – Job Rotation auch innerhalb der internationalen Buchgruppe, Möglichkeiten durch spezielle Programme, unsere zukünftigen Führungskräfte auszubilden und in sie zu investieren. So sind wir für viele dieser Mitarbeiter auch attraktiv, obwohl wir nicht immer die nächste Ebene anbieten können.
Thielen: Aber diese Pyramide finden wir doch überall, dass ganz oben nur noch einer ist und darunter mehrere, die sich Hoffnung machen. Das ist nicht branchenspezifisch. In unserer Branche kommt zu diesem Flaschenhals nach oben allerdings die geringe Durchlässigkeit zwischen den Abteilungen und Arbeitsgebieten hinzu. An der Stelle sollten wir unsere Strukturen infrage stellen.
Wie könnte die Branche denn besser PR für sich machen?
Bürger: Wir müssen den Kern dessen, was wir tun, kenntlich halten. Wenn ich mit meinen schwedischen Kollegen rede – wo ja die gesamte Breite der Medienklaviatur bespielt wird –, dann fällt, egal ob Zeitung, Fernsehen, Buch oder digitale Medien, immer wieder ein Stichwort: Passion! Diesen Typus des Mitarbeiters, der aus Leidenschaft seine Arbeit macht, brauchen wir auch in Zukunft in unseren Häusern.
Bommersheim: Ja, wir brauchen Passion. Aber ich wünschte mir zugleich ein höheres Maß an Professionalisierung. Das muss in den Häusern, gerade auch durch die Entscheider, vorbereitet werden. Die Universitäten, die unsere Branche bisher begleitet haben, driften einerseits stärker weg von der Marktentwicklung. Andererseits können wir bei der Dynamik des Marktes auch nicht erwarten, dass die Universitäten so nah dran sind wie die Marktteilnehmer selber. Es ist dringend nötig, dass wir als Branche deutlich machen: Wir können Zukunft, wir sind Teil dieser großen Digitalisierung und wir geben jüngeren Menschen eine Chance, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. So kann aus Ideenreichtum Verantwortung erwachsen – und zukünftige Führungskräfte!
Moderation: Torsten Casimir