Fundierte, professionelle Kritik müsse aber auch finanziert werden. Oft sollten „Print-Journalisten nebenbei noch etwas für online schreiben und rund um die Uhr arbeiten", beklagte Hartwig und bewertete dagegen eine eigene Online-Redaktion der „Zeit" als vorbildlich. Die Kritikerin wagte einen Ausblick: „Was wird in zehn Jahren sein? Zeitungsabonnements werden in der bürgerlichen Tradition nicht mehr dazugehören – gleichzeitig tragen viele Leser dazu bei, durch die Haltung, dass man im Internet für Qualität nichts zahlen möchte."
Hartwig wunderte sich über die Internetauftritte vieler Verlage: „Sie nutzen kaum die kreativen Möglichkeiten ihrer Webauftritte", sondern bestückten ihre Homepages vor allem mit Lesungsterminen und Informationen über Bücher und Autoren. Schließlich lud Hartwig die Buchhändler und Verleger des Börsenvereins Region Nord zur Debatte ein: Spielt Literaturkritik heute noch eine Rolle?
„Die Buchhandlung Felix Jud in Hamburg hat Schaufenster mit herausgerissenen Rezensionen bestückt, was wir als Anregung für unseren Laden genommen haben" berichtete Sortimenter Dietrich Wienicke (Schopf, Brunsbüttel). „Wir haben selbst damit großen Spaß, und sehen ja, wie sich Kunden die Nase am Fenster plattdrücken" – Literaturkritik stoße also durchaus auf sichtbares Interesse. Nur spiele bei Jüngeren das Feuilleton keine Rolle mehr, so der Befund von Torsten Lager (Bücherstube Fuhlsbüttel, Hamburg). „Literaturkritik im Feuilleton ist bei uns nur für einen relativ kleinen Kundenkreis relevant", war nicht nur die Erfahrung von Wolfgang Erichsen (Erichsen & Niehrenheim, Kiel), „unsere Kunden orientieren sich eher an Empfehlungen in der ‚Brigitte' oder in Talk-Shows." „Gegen Debatten in Talk-Shows kommt professionelle Kritik fast gar nicht an", pflichtete Hartwig bei, oft verselbstständigten sich diese Debatten – wobei die Buchhändler doch eigentlich über Bücherdebatten glücklich sein müssten.
In der Tat komme heute eine merkliche unterstützende Verkaufshilfe für Bücher von Talk-Shows, berichtete Rowohlt-Geschäftsführer Lutz Kettmann. Aber auch wenn die Kritiken in Zeitungen weitaus knapper ausfielen als früher – wirkungslos seien sie beileibe nicht: „Wolfgang Herrndorfs wunderbarer Roman ‚Tschick' etwa hat sich anfangs noch etwas schwer getan, und gute, teils hymnische Besprechungen haben das Buch dann entscheidend nach vorn gebracht, bis zum Bestseller."
Buchhändlerin Andrea Nunne (Bücher & Co., Hamburg) wies darauf hin, dass Buchbesprechungen im Internet wie etwa auf lovely-books zunehmend Beachtung fänden; „sprachlich vielleicht eher laienhaft, schreiben dort auch Buchhändler in ihrer Freizeit Rezensionen." „Aber da würde ich unterscheiden", meinte Ina Hartwig, „als Buchhändler befassen Sie sich professionell mit Büchern."
Berührt wurde in der Debatte auch der gute alte Verriss, der trotz seines deutlichen Nicht-Empfehlungs-Charakters nach Aussage vieler Buchhändler Kunden dennoch zum Kauf gebracht habe. Warum eigentlich, wollte die Runde wissen, gebe es kaum noch Verrisse? „Der Verriss ist in Verruf geraten", bedauerte Hartwig. „Zeitungen haben ihren Platz reduziert, der Redakteur fragt sich: Was biete ich dem Leser auf diesem Platz? Auf welche Bücher will ich verzichten?" So gebe es mehr Empfehlungen für Bücher, die dem Kritiker gefallen hätten. Dennoch: „Ich finde den Verriss wichtig", hielt Hartwig fest.
Thema war auch das öffentliche Streiten über Bücher: „Nach dem ‚Literarischen Quartett' kamen nicht nur die belletristisch und kulturell gebildeten Kunden zu uns in die Buchhandlung", erinnerte sich der Hamburger Sortimenter Peter Blänsdorf „sondern auch Käufer, die vorher gar nicht in den Laden gekommen waren." Ja, „das Reden über Literatur vor Publikum ist ein Format, das Zukunft hat", prognostizierte Hartwig und nannte das Beispiel der Frankfurter Literaturgespräche „Schöne Aussichten", wo Kritiker sich über Bücher unterhielten – „und diese Veranstaltungen sind immer gut besucht. Kritiker zeigen, wie sie um ihr Urteil ringen, sie sind in diesem Moment in der gleichen Lage wie die Zuschauer." Das Prinzip müsse auch für die Kritiken in gedruckten Medien gelten: „Professionelle Literaturkritik muss Lesen als Erkenntnisgewinn und als Lustgewinn darstellen. Der Leser darf erwarten, dass Literaturkritiker Leseerfahrungen transparent machen, und dass Lesen auch eine sinnliche Erfahrung ist."