Der Bücherschrank meiner Eltern platzte nie aus allen Nähten. Auf den überschaubaren Regalbrettern in der nussbraunen Schrankwand zu Hause ließ sich das Gesamtangebot gut überblicken. Schließlich musste so ein vielseitig nutzbares Wandensemble ja auch für andere Dinge – den Plattenspieler, die mit Asbach Uralt und Sektflöten bestückte Bar – Raum bieten.
Was damit an Büchern konkurrieren durfte, stammte meist aus den soliden Beständen des Deutschen Bücherbunds, einst die Keimzelle des Stuttgarter Holtzbrinck-Konzerns. Was dort preiswert feilgeboten wurde, gefiel meinen Eltern, die nicht unter dem Druck standen, sich den neuen Böll oder Frisch sofort bei Erscheinen zu Gemüte zu führen. An John Knittels »Via Mala« erinnere ich mich zum Beispiel und an Konsaliks »Der Arzt von Stalingrad«, dessen Präsenz im Wohnzimmer uns Kinder später peinlich sein sollte.
Sich in die große Zahl derer einzureihen, die Mitglied des Bücherbunds oder des Bertelsmann-Clubs waren, gehörte damals zu den Gepflogenheiten deutscher Haushalte, die sich als (gut)bürgerlich (wenn auch nicht unbedingt als bildungsbürgerlich) verstehen wollten. Man bekam die Dinge günstiger (für eine in Schwaben lebende Familie kein unwichtiges Argument!), wurde von den Pflichtabnahmen nicht erschlagen und durfte sich mitunter an Treuebänden erfreuen, selbst wenn man für die selten Verwendung fand.
Auch das »Beste aus Reader’s Digest« gehörte übrigens zu dem wenigen, was meine Eltern abonnierten – ein für einen Jugendlichen hoch interessantes Sammelsurium, das, wenn man genau hinsah, sogar dezente Erotika enthielt.
Die Freude der Deutschen, sich als Vereinsmeier zu betätigen, erlosch nach und nach. Wie immer hatten die Umwälzungen der Studentenunruhen damit zu tun, sodass sich mit einem Mal das Bedürfnis zum Nonkonformismus und Individualismus breitmachte. Mit den Nachbarn in einen Topf geworfen zu werden und die Bücher zu lesen, die andere zur gleichen Zeit lasen, das wollten immer weniger Menschen.
Dass viele mit diesem neuen Hang zum Individuellen überfordert waren und sind, steht auf einem anderen Blatt. Mir wäre es nie eingefallen, einem Buchclub beizutreten. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft verließ ich in den 80ern, und einer findigen Buchhändlerin war es zu verdanken, dass ich hin und wieder die edlen Bände der Büchergilde Gutenberg erstand, ohne deren Mitglied zu sein.
In »Annabelle, ach, Annabelle« besang Reinhard Mey damals den Prototyp einer sich auf Teufel komm raus vom Mainstream fernhaltenden Intellektuellen. Annabelles »Nonkonformisten-Uniform« haben sich danach viele angezogen, und so war seit Langem abzusehen, dass Bücherbündnissen und Buchclubs auf Dauer keine glorreiche Zukunft beschieden sein würde.
Auch die politischen Parteien verlieren an Mitgliedern – mit Ausnahme der Grünen, wo sich heute die finden, die von Annabelles Geist getragen waren. Doch wer weiß, vielleicht ändert sich das wieder. Mittlerweile sind ja auch alle gegen Atomkraft, und so ist ein Comeback des Buchclubs nicht ganz ausgeschlossen – als Ausweis des Unverwechselbaren. So lange wollte Bertelsmann nicht warten.