Island

Helle Nächte in Ultima Thule

20. September 2011
von Börsenblatt
Galiani-Verleger Wolfgang Hörner ist für ein Buch zusammen mit dem Journalisten Tilman Spreckelsen und der Illustratorin Kat Menschik nach Island gefahren. Die Reise bringt dem deutschen Trio die geplante Begegnung mit den Originalschauplätzen der Isländer-Sagas und manche unvorhergesehene Treffen. Hier ist der Bericht des Verlegers.

Es gibt Reisen, die bleiben detailscharf im Gedächtnis; jede einzelne Erinnerung wie poliertes Metall, glatt gesägt und an den Kanten geschliffen. Andere, wie diese nach Island, verschwimmen mit der Zeit zu traumartigen Sequenzen. Das müssen nicht die Schlechteren sein. Die Stein-Xylophonklänge der isländischen Musikgruppe Sigur Rós hatten uns schon im Flugzeug eingestimmt auf das, was wir nun sahen: Weiten aus Himmel, Stein und Gras, durchfurcht von Fjorden und Flüssen, bizarre Bergkegel, die einst Vulkane gewesen waren (oder es noch sind), Basaltklippen, flechtenüberwucherte Lavagerölle - und dazwischen was immer sich halten kann als Pflanzenwelt: eine überraschende Artenvielfalt in eminenter Farbintensität, die von der erhabenen Kargheit der Umgebung und dem seltsam überintensiven Licht noch gesteigert wird. Und wo keine Vegetation ist, Lava, Lava, Lava, Lava. Lava in jeder Form und Farbe, jeden Alters und jeder Dimension.

Zuerst ging es in den Norden, an den Borgafjord, wo Teile der Egils-Saga spielen, eine der reichsten und schönsten Sagas. Egil ist nicht nur ein bärenstarker und jähzorniger Krieger, wie viele Figuren der Sagas, sondern mit seinem hässlichen Schädel ungewöhnlich missgestalt. Er kennt nicht nur Siege, sondern auch die Abgründe der Depression – und er ist ein grandioser Dichter. Den Schmerz über den Tod seines geliebten Sohnes überwindet er erst durch ein Trauergedicht; und als er durch unglückliche Umstände in die Hände seines erbittertsten Feindes fällt, gelingt es ihm, durch ein Gedicht sein Leben zu retten.

Am Helgafell, einem einst als heilig geltenden Hügel, an dessen Fuß sich das Grab der mehrmals unglücklich verheirateten Saga-Heldin Gudrun Osvifrsdottir befindet, ein unglaublicher Blick: einerseits über den Hvamms- und den Breidafjord mit seine tausenden von Schären und andererseits ein weiter Blick ins Landesinnere bis zu den Gletschern, zwischen denen Saga-Held Grettir ein durch die Erdwärme auch im Winter schneefreies Paradies fand. Hinter dem heiligen Berg führt uns Arthur auf eine frühere Thingstätte, auf der ein alter Stein liegt – es soll ein Richtstein gewesen sein, auf dem Hinrichtungen vorgenommen wurden. Stimmungsmäßig angemessen greifen einige der hier nistenden Seeschwalben uns an – am Tag danach, werden sie an einem Küstenstreifen sogar das Auto attackieren.

Am Abend werden wir im nächstgelegenen Ort von der neuen Bürgermeisterin zum Essen eingeladen. Nach der Staatspleite sind viele Berufspolitiker abgewählt worden, unsere Gastgeberin ist aus einer Bürgerbewegung hervorgegangen. Und um den etwas unwirklich wirkenden Abend abzurunden, sitzt feengleich Björk am Nebentisch. Angeblich besitzt sie eine der zweitausend Inseln im Fjord, gar nicht weit von hier.

Und so geht es am die nächsten beiden Tage weiter: um die Halbinsel Snaefellsness herum, vorbei am Erdhaus Erik des Roten (der selbst Grönland und dessen Sohn Leif Erikson Jahrhunderte vor Kolumbus als erster Europäer Amerika entdeckte), tief ins Vatnsdalur hinein und bis an dessen Ende. Einst war das fruchtbare Land halb verlassen; der Wiedergänger Glam trieb dort sein Unwesen – solange, bis der Saga-Held Grettir ihm nach unglaublichem Ringkampf das Genick brach. Noch im Todesmoment allerdings verfluchte Glam seinen Bezwinger – und prophezeite ihm, dass dieser hinfort bei Dunkelheit immer seine, Glams, starre Augen vor sich sehen werde.

So verwandelt sich Grettir, der bis dahin Furchtlose, bei Dunkelheit hinfort in ein angstschlotterndes Bündel. Vor Angst schlottern tun wir nicht, aber an den Nerven zehrt schon, dass wir uns im endlosen, von Flusstälern und deren Seitenarmen durchzogenen Hinterland bei der Fahrt zum Nachtlager verirren. So kommen wir in der in den Ferien zum Hotel umgewidmete Schule spät an und gehen noch später ins Bett – denn was kann es Schöneres geben, als nachts um zwei oder drei bei Wein und/oder Lava-Wodka auf einer Wiese in Mitternachtssonne einen „Wer-macht-die- bizarrsten-Schattenfiguren"-Wettbewerb zu machen?

Vorbei am ehemaligen Hof Hühnerthorirs geht es dann zum legendären Thingvellir, wo zu Wikingerzeiten einmal jährlich Delegationen aus alle Landesteilen Islands eintrafen und alle wichtigen Beschlüsse gefasst wurden. Hier klafft die Kontinentalspalt, hier treffen die eurasische und die amerikanischen Landmasse sichtbar aufeinander, beziehungsweise treiben auseinander: jedes Jahr wird die Spalte um einige Millimeter breiter. An brodelnden heißen Quellen vorbei geht es zur flachen und eher lieblichen Südküste, wo am Fuße des noch immer in Aschwolken gehüllten Vulkans Ejafjellayökull die Höfe Gunnars und Njáls lagen.

Es ist stürmisch und bitter kalt, Ascheteile geraten in die Kamera und setzen sie außer Gefecht. Aber wer würde so etwas nicht über einen Abend verschmerzen, wie den, der folgt: Wir nächtigen in der Scheune einer Pfarrei, von der aus man zum Meer hin auf grüne Wiesen und Marschland schaut (das Areal der Njáls-Saga) und – in anderer Blickrichtung – auf den immer noch mit meterhohen Ascheschichten bedeckten Gletscher des Eyafjallajökull, der vor kurzem noch Teile des europäischen Flugverkehrs lahmlegte. In der Scheune wird geredet, gelacht, gegrillt, getrunken, der Hund des Hauses schaut mit sehnsuchtsvollen Blicken aufs Grillgut und kommt im Laufe des Abends auf seine Kosten. Spät nachts führt uns der Pfarrer noch in die hinteren Teile der Scheune, in deren Tiefe sich ein Separee mit Tischfußball und Billardtisch auftut – irgendwann sehr spät nachts tauchen noch zwei Freunde des Pfarrers auf, es wird spät und bleibt lustig.

Auch am Tag danach gute Stimmung, islandweit, mit 18 Grad ist es der wärmste Tag des Jahres, so mancher männliche Bevölkerungsteil feiert ihn mit entblößtem Oberkörper. Der Abschlussabend in Rejkjavik beginnt in einer Fußballkneipe und auch der Restabend wird der Reise würdig. Als wir – noch vor den letzten Teile der indigenen Bevölkerung – ziemlich spät am nächsten Morgen zu unserer Behausung aufbrechen, macht Schlaf keinen Sinn mehr. Aber wir wissen vieles: Tilman weiß, welche Sagas er erzählen wird und welchen Geist sie atmen werden. Kat hat hunderte von Fotos der Landschaft, der Flora und Fauna und ist bestens gerüstet für die Bilder, die sie zum Buch beisteuern will. Wer das Nachwort schreiben wird. ist auch klar geworden – und auch, dass jeder von uns mehr als gern wieder einmal nach Island reisen würde.

„Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer–Sagas", nacherzählt von Tilman Spreckelsen, illustriert von Kat Menschik und mit einem Nachwort von Arthur Björgvin Bollason ist vor kurzem beim Galiani Verlag herausgekommen.

Heute erscheint das Börsenblatt-Spezial "Buchmesse" mit einem Schwerpunkt zu Island und wichtigen Themen der Messe.