Forum Börsenverein

Blockbuster - das Publikum entscheidet

12. Oktober 2011
Redaktion Börsenblatt
Jährlich entfachen die Blockbuster und Megaseller aufs Neue eine Debatte. Welche Folgen hat der Bestsellerwahn für Verlage, Sortimente und die Branche? Verdecken die Megaseller die Sicht auf die vielen anderen, lesenswerten Titel? Markus Klose (Hoffmann & Campe), Irene Nehen (Buchhandlung Melchers, Bremen, und AKS-Sprecherin) und Kerr-Preisträger Hubert Spiegel (FAZ) im Gespräch mit Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.

Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen stellte die These auf, dass in den letzten Jahren das Spitzenmarketing eine völlig neue Dimension erreicht habe. Seine Frage: "Bindet das Bestsellergeschäft zu viele Ressourcen? Leidet das Programm unter der Fokussierung auf Titeln, die bereits beim Einkauf als Bestseller kalkuliert werden?"

Hoffmann & Campe Geschäftsführer Klose widerspricht: "Verlage sind von dem Entstehen vieler Megaseller selbst verblüfft. Charlotte Roches neuester Titel etwa hat wenig Einsatz seitens des Verlags erfordert. Das Medieninteresse war von vorneherein enorm durch den Überraschungserfolg ihres ersten Romans. Auch Stephenie Meyer und Potter-Autorin Rowling wurden am Beginn ihrer Laufbahn überhaupt nicht stark gepusht. Investiert wird erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Verlage sich auf den Erfolg eines Titels sicher verlassen können. Neu im Markt sind die wirklichen Blockbuster und Megaseller. Früher war man froh über 150.000 oder 200.000 verkaufte Titel. Die Entwicklung geht heute  zu Büchern, die Millionen Leser finden. Diese Auflagen sind aber nicht im Voraus kalkulierbar. Das Publikum entscheidet - und überrascht die Verlage häufig. Denken Sie etwa an 'Deutschland schafft sich ab' von Thilo Sarrazin."

Hubert Spiegel relativiert: "Die Tendenz zum Spitzenmarketing hat sich zugespitzt, von einer Revolution würde ich aber auch nicht gerade sprechen. Was ist überhaupt ein Bestseller? Das hängt von den Verlagen ab. Sicher sind Verlage viel stärker von Bestsellererfolg abhängig. Wird etwa eine Lizenz für einen internationalen Spitzentitel erworben, ist dies meist teuer. Entsprechend gut muss man dann auch mit einem Titel verdienen. Da kann es sein, dass 150.000 Exemplare noch gar nicht den Gewinn abwerfen, den man eigentlich einfahren müsste. Für kleine Verlage hingegen sind 10.000 verkaufte Exemplare oft schon ein Erfolg."

Welche Auswirkungen hat das "Bestsellermarketing" auf den Buchhandel?

Buchhändlerin Irene Nehen: "Bereits beim Einkauf werden wir auf Schwerpunkte der Verlage hingewiesen, und wir werden von den Erfolgen regelrecht überrollt. Dieses Jahr etwa der Deutsche Buchpreisträger Eugen Ruge: Er wurde von Anfang an vom Rowohlt Verlag absolut hochgehalten. Ich möchte mich aber mit meinem Buchladen absetzen von den Bestsellerlisten. Generell sind Kunden häufig verunsichert von der Auswahl an Titeln, die die Verlage zu Tausenden auf den Markt werfen. Wir müssen als Sortiment einfach eine Auswahl treffen. Dabei sehen wir uns vor das Problem gestellt, dass die Kunden oft nur die Titel aus den Bestsellerlisten wahrnehmen, es sei denn, in den Medien wird stark über andere Bücher oder Verlage berichtet. Das ist aber oft ein Effekt, der nur sehr kurz anhält."

Heizen die Agenten die Bieterschlacht um Lizenzrechte weiter an?

Markus Klose: "Vor zehn Jahren gab es in der Verlagsbranche einen größeren Konkurrenzdruck und eine größere Bereitschaft, auch hohe Summen zu bieten. Heute ist die Tendenz eher etwas rückläufig. Die Angebote sind realistischer geworden."

Verlage als Marke - oder Autoren als Marke?

Hubert Spiegel: "Eine Auswirkung des Bestsellerwesens betrifft die Verlage: Das Markenbewusstsein in den Augen der Leser hat sich von den Verlagen hin auf die Autoren verschoben. Früher waren Verlage deutlicher profiliert. Gleichzeitig sehen wir die Entwicklung, dass es Autoren gibt wie Stephenie Meyer oder Hape Kerkeling, die in jedem Verlag erscheinen könnten. Die Hälfte des Verlagsumsatzes wird oft mit einem einzigen Titel gemacht."

Markus Klose: "Verlage sind keine Marke und waren es auch nie. Diese Markenzuschreibung wird, glaube ich, eher von Journalisten als von Kunden gemacht. Autoren als eigene Marke erfolgreich zu machen, ist nicht neu. Dennoch glaube ich, dass ein Verlag gut beraten ist, ein konsistentes Programm aufzubauen. Auswirkung auf die Verkaufszahlen haben Marketingkampagnen aber nur im begrenzten Maß - wichtiger sind Empfehlungen. Sei es in den Medien oder durch den Buchhändler."

Gibt es einen Verdrängungskampf?

Hubert Spiegel: "Wir haben es ganz klar mit einem Verdrängungskampf zu tun. Wenn ein Buch eine Auflage von 2 Millionen Exemplaren hat, dann darf man davon ausgehen, dass entsprechend weniger andere Titel verkauft werden. Für das Jahr 2007 gab es eine GfK-Studie: 177 Top-Autoren waren für 30 Prozent aller verkauften Bücher des gesamten Marktes verantwortlich..."

Buchhändlerin Irene Nehen bestätigt: "Der Verdrängungswettbewerb findet statt. Die Vielseitigkeit eines Sortiments kann aufgrund der Präsenz der sogenannten Bestseller geringer werden. Ein Euro kann schließlich nur einmal ausgegeben werden. Auf der anderen Seite ist es bei den Bestsellern mitunter aber so, dass eine Stephenie Meyer so oder so gekauft wird und der Kunde lieber woanders spart - da wird der Euro dann wiederum sozusagen zweimal ausgegeben."

Verlorenes Gleichgewicht - Einheitsbrei Bestsellerliste?

Hoffmann & Campe-Verleger Klose: "Ich widerspreche der These. Die Bestellerlisten sind doch sehr vielfarbig. Nächste Woche wird sicher Eugen Ruge ganz vorne stehen. Vorher waren es Sarrazin oder unser Compostela-Wanderer."

Buchhändlerin Irene Nehen hat mit den Bestsellern ein ganz anderes Problem: "Eine Vielseitigkeit ist schon da. Es sind aber 50 bis 60 Titel, die immer wieder auf all diesen Listen auftauchen. Alle anderen hervorragenden Novitäten gehen für das breite Publikum unter. Da müssen wir als Sortimenter dafür sorgen, dass hervorragende andere Titel auch Beachtung finden."

Kurzlebigkeit der Bücher - Schrumpfende Backlist?

Hubert Spiegel: "Seit Jahren gibt es immer wieder die Klage, dass Bücher ein immer kürzeres "Zeitfenster" hätten, während dessen sie verkauft werden können bevor sie vom Markt verschwinden. Es wird immer schwerer, die Backlist zu pflegen und damit Umsatz zu machen. Diogenes-Verleger Keel gab darum etwa in einer Vorschau seine Worstseller-Liste heraus."

Buchhändlerin Irene Nehen: "Wir können viele Titel gar nicht mehr lange im Programm halten."

Michael Roesler-Graichen: "Ist das E-Book eine Chance, Leben in die Backlist zu bringen? Der Hanser Verlag etwa geht diesen Weg mit Buchpaketen von Umberto Eco und Ilija Trojanow."

Markus Klose: "Ich glaube nicht, dass es ein Backlistproblem gibt. Insbesondere der Taschenbuchmarkt speist sich ja aus diesen Titeln. Verlage und Medien rücken aus sinnvollen Gründen die Novitäten in den Vordergrund. Neu ist hingegen, um eine Brücke zu schlagen, dass das Publikum zur Verblüffung aller manche Titel ganz unvermutet zu Bestsellern macht."

Am morgigen Donnerstag, 13. Oktober, findet eine weitere Diskussionrunde des Börsenblatts statt: Großfläche war gestern: Wie unabhängige Buchhandlungen beim Kunden punkten. Moderation: Stefan Hauck. Forum Börsenverein, Halle 4.0 D 1362.