Frankfurter Buchmesse

Ran an die Jungs!

12. Oktober 2011
Redaktion Börsenblatt
Die Hälfte der jungen Leser ist verdammt schwer zu erreichen: Warum das so ist, dazu gab es unterschiedliche Antworten in der erhellenden Diskussionsrunde "Ran an die Jungs", zu der die Arbeitgemeinschaft von Jugendbuchverlagen und das Börsenblatt heute Nachmittag eingeladen hatten.

Ein Blick über die Menge Zuhörer reichte, um zu zeigen, wie aktuell das Thema war: Fast ausschließlich Frauen interessierten sich im Kinderbuchforum für die Frage, warum so wenig Jungs lesen. "Nur sechs Prozent der Jungs geben laut KIM-Studie 2010 an gerne zu lesen, während es bei Mädchen mehr als 50 Prozent sind", gab Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir den Befund als Fakt in die Diskussionsrunde. Bevor man sich auf die Suche nach den Schuldigen mache, müsse man zunächst konstatieren, dass die weniglesenden Jungen kein neues Phänomen seien, meinte Regina Pantos. "Nach dem Grundschulalter gehen die Interessen der Geschlechter auseinander", so die Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur. "Die entscheidende Frage ist: Warum? Warum werden Frauen Lehrerinnen, Bibliothekarinnen, Buchhändlerinnen, aber nur ganz selten Vorstandsvorsitzende? Es liegt an den Rollen, die Männer und Frauen in unserer Gesellschaft wahrnehmen." Pantos warnte vor der panischen Schlussfolgerung, dass Jungs nach der Grundschule für die Bücherwelt verloren seien: "Von denen, die bis elf gelesen haben, fangen einige mit 20 wieder an. Gerade im Krimigenre treffen sich dann Mädchen und Jungs wieder."

Lesen gelte in der Gesellschaft leider oft als uncool, bedauerte Buchhändler Jürgen Hees (Herwig, Schwäbisch Gmünd): "Jungs fehlen entsprechende Vorbilder. Männer lesen Kindern kaum vor, Kinder sehen Männer selten Bücher lesen." Das liege an sozialen Rollenverhalten, meinte Ulrich Störiko-Blume. "in vielen Romanen geht es um Beziehungen, und darum kümmern sich hierzulande Mädchen und Frauen. Damit sage ich nicht, dass es so bleiben muss - im Gegenteil!", so der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj). Es erkläre aber, dass gut 75 Prozent der Bücher in Deutschland von Frauen gekauft werden.

Bei den vielen lesenden Mädchen könnten buchaffine Jungs doch ihre Chancen beim weiblichen Geschlecht signifikant verbessern - warum sich das eigentlich noch nicht herumgesprochen habe?, wunderte sich Moderator Torsten Casimir. Das Publikum offensichtlich auch, denn es notierte die Anregung fleißig mit. In ihrer Stammbuchhandlung seien plötzlich Jungs vom Gymnasium aufgetaucht und hätten die Bis(s)-Bücher gekauft, gab Regina Pantos zu Protokoll: "Die haben wissen wollen, für was die Mädchen denn so schmachten."

Kontrovers diskutiert wurde die These von Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung, nach der es zu wenig Ientifikationsfiguren für Jungen gibt. "Jungs wollen gerne Helden haben", bestätigte "Coolman"-Autor Rüdiger Bertram, während Störiko-Blume ungebrochene Heldenfiguren als peinlich empfand. Lektorin Annika Ernst berichtete von ihren Schwierigkeiten, passende Lektüre zu finden. Sie bietet an einer Münchner Grundschule insbesondere für 5. und 6.-Klässler ein Leseprojekt an und hat beobachtet, dass die Toleranzschwelle von Jungs, ein Buch mit einer weiblichen Heldin zu lesen, wesentlich geringer sei als die von Mädchen, die jederzeit ein Buch mit einem Jungen als Protagonisten läsen. "Also wenn unter den jährlich 8.000 neuen Kinder- und Jugendbüchern keine Titel mit passenden Identifikationsfiguren sind - das wäre doch verwunderlich", meinte Regina Pantos. "Das ist eher eine Frage der Vermittlung: Wie kommen die Bücher zu den Jungs?" Viele trauten sich nicht recht, eine Buchhandlung zu betreten.

"Wenn einem Jungen nicht klar ist, wo er welche Bücher findet, marschiert er wieder raus", bedauerte Sortimenter Jürgen Hees. "Die fragen einfach nicht. Und die reden auch nicht viel." Eine Aussage wie die, dass "Eragon" cool sei, freue ihn zwar, aber wenn er dann nachfrage und mehr wissen wolle, seien der Ausdrucksfähigkeit oder der Mitteilsamkeit Grenzen gesetzt: "Ja, cool halt." Jungs wollten ungern zugeben, dass sie orientierungslos seien, so das Fazit von Pantos.

Bei einer solchen Podiumsdiskussion durfte das Thema E-Book nicht fehlen. Ob man die digitalen Inhalte als Chance sehe?, wollte Torsten Casimir wissen. Die Diskutanten sahen es nüchtern: "Mich fragen Jungs in der Oberstufe, wann sich die E-Reader durchsetzen", so Lektorin Annika Ernst. "Wenn ich zurückfrage, ob sie damit mehr lesen würden, sagen die lesenden Jungs: Nö, und wir lesen lieber auf Papier, und die Nichtleser sagen auch Nö." Pantos vermutete, dass sich die Schere zwischen Lesern und Nichtlesern auch mit Reader weiter vergrößere: "E-Books führen zu nicht mehr Chancengleichheit", einer Aussage, der sich Buchhändler Hees anschloss. "Vor 20 Jahren ging ein Raunen durch die Buchbranche", erinnerte Verleger Störiko-Blume, "als nämlich die ersten CD-ROMs auftauchten, hieß es: Wird sich jetzt nicht alles verändern?" Das sei nicht der Fall, nur laute die Frage für Verleger jetzt: "Konkurriere ich mit dem Spiel oder mit dem Film? Lesen braucht aber Ruhe, um in phantastische Welten einzutauchen, da braucht es kein ablenkendes Blitzen und Klingeln. Unsere ökonomische Zukunft hängt weniger von elektronischen Entwicklungen ab als von guten Autoren."