Erst der Abgang von Brockhaus, nun der Umzug des Bibliographischen Instituts nach Berlin – man hat den Eindruck, das Ihre Unternehmensaktivitäten beim ehemaligen Bibliographischen Institut & F. A. Brockhaus (Bifab) durch Marktveränderungen und die Digitalisierung stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nach außen vermitteln diese Vorgänge den Eindruck fehlender Steuerung oder gar eines Niedergangs. Gab es in den vergangenen Jahren einen Punkt, an dem man die Entwicklung hätte umkehren können?
2003 hatte der gesamte Verlag mit Brockhaus – also Bifab – einen Umsatz von 53 Millionen Euro, heute hat das B.I. ohne Brockhaus, wenn man das Kalendergeschäft dazuzählt, das in der Zwischenzeit aufgebaut wurde, etwa 65 Millionen Euro. Insofern kann man nicht von Niedergang sprechen. Als sich Anfang der 2000er Jahre abzeichnete, dass das Internet zu einer zunehmenden Beeinträchtigung des Lexikongeschäfts werden würde, haben wir aus der strategischen Planung heraus den Brockhaus Direktvertrieb an Bertelsmann verkauft und ihn auf diese Weise für mehrere Jahre für die Produkte erhalten. In dem Zeitraum wurde auch die strategische Entscheidung getroffen, aus den zehn Kalendern, die das B.I. im Programm hatte, durch Programmausbau und Zukäufe den führenden deutschen Kalenderverlag zu machen. Dies ist auch gelungen: KV & H ist nach den Zukäufen der vergangenen Jahre heute der marktführende Kalenderverlag – und Kalender sind nicht mit dem gleichen Risiko behaftet wie die Nachschlagewerke und können nicht so schnell durch das Internet substituiert werden. Parallel haben wir in das Kinder- und Jugendbuch investiert,mussten hier aber feststellen, dass sich der Trend von Sachthemen hin zum erzählenden Kinderbuch bewegt. Dort eine eigene Kompetenz aufzubauen, ist nicht über Nacht möglich. Wir konnten auch nicht verhindern, dass auch bei anderen Sachbuchthemen der Buchmarkt rückläufig ist. Die Reduktion der Fläche und der Zahl der Buchhandlungen hinterlässt hier starke Spuren. In wichtigen Bereichen, die sich am Markt rückläufig entwickelt haben, hat das B.I. mit seinen Programmbereichen sich besser entwickelt als die übrigen Marktteilnehmer, insofern bedarf es einer differenzierten Betrachtung.
Aber eines der mutigsten Projekte in Ihrer Zeit bei Bifab – das für die Kunden kostenlose Portal Brockhaus Enzyklopädie Online – wurde im letzten Moment abgeblasen. Hätte dies nicht die Abwärtsbewegung im Lexikongeschäft verhindern können?
Wir hatten für 2005 geplant, in den ersten drei bis vier Monaten nach Erscheinen der 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie 10 000 Serien zu verkaufen, es wurden aber nur rund 7 000 erreicht. Das war zwar kein Desaster, weil es sich ja um langlebige Werke handelt – dennoch hatten wir die Botschaft verstanden: Wir würden nicht die Erlöse erzielen, die wir uns vorgenommen hatten. Wenn wir also der Marke eine Chance geben wollten, auf Dauer präsent zu sein, dann würde dies im Internet sein müssen – und zwar in Konkurrenz zu Wikipedia durch ein Online-Portal mit direktem Zugang und ohne die Erschwernis eines Logins. Das Brockhaus-Enzyklopädie-Portal sollte – aufsetzend auf der für die 21. Auflage aktualisierten Substanz – in Zusammenarbeit mit renommierten Instituten und Institutionen das Wikipedia-Konzept des freien Zugangs mit dem Brockhaus-Anspruch der geprüften, qualitätsvollen Information verbinden. Und ja, ich bin heute noch davon überzeugt, dass dies funktioniert hätte. Ein ähnliches Konzept wie für die geplante kostenlose Enzyklopädie Brockhaus Online haben wir jetzt mit Duden.de. Auch da war die Frage: Verweigern wir uns dem Internet und damit auch einer jüngeren Klientel, die die Information mobil nutzen will? Seit zwölf Monaten haben wir eine Verdoppelung der Reichweite von vier Millionen auf acht Millionen Nutzer und beobachten keine negativen Auswirkungen auf die Buchverkäufe, sondern eine positive, stabilisierende Wirkung.
Wann haben Sie zuerst über eine Online-Alternative nachgedacht?
Schon in der Vorbereitung auf die 21. Auflage, die zur 200-Jahr-Feier von Brockhaus erscheinen sollte, wurde ich auf Wikipedia aufmerksam. Das war Ende 2002. Wir wussten daher sehr früh, dass dem gedruckten Werk eine ernst zu nehmende Konkurrenz erwachsen würde. Deshalb haben wir intern sehr früh die Weichen für den Online-Auftritt gestellt. Bereits wenige Wochen nach Erscheinen der 21. Auflage hat der Aufsichtsrat die Investitionen für das Projekt Brockhaus Online verabschiedet. Die konzeptionellen Vorarbeiten waren schon vorher parallel angelaufen. Im November 2007 erschien dann im »Stern« ein Vergleich zwischen Wikipedia und dem kostenpflichtigen Vorläuferangebot Brockhaus online – da meldeten sich erste Zweifel bei den Brockhaus-Gesellschaftern, ob der Verlag auf dem richtigen Weg sei. Damals waren bereits Hunderte von Autoren und Professoren sowie zahlreiche Institute und Bildagenturen unter Vertrag. Brockhaus Online war plangemäß am 1. März 2008 fertig für die Liveschaltung. Die Gesellschafter entschieden sich aber damals dagegen und forcierten die Brockhaus-Verkaufsverhandlungen. Aber das geschah erst nach meinem Wechsel vom Bibliographischen Institut & der F.A. Brockhaus AG in die Cornelsen Verlagsholding zum Oktober 2007.
Und zur Zeit Ihres Ausscheidens liefen noch keine Verhandlungen mit InmediaOne?
Nein. Die liefen ab Frühjahr 2008, nachdem InmediaOne über Brockhaus Online informiert worden war. Ich hatte vorher die Verträge mit InmediaOne gemacht, und war mir deshalb sicher, dass Brockhaus Online mit den Vertriebsverträgen, die sich ausschließlich auf die gedruckten Brockhaus-Werke bezogen, vereinbar war. Denn in den Verträgen wurde auf Online-Verwertungen überhaupt kein Bezug genommen. Das sah man bei den Vertragspartnern offenbar anders, da die Sorge bestand, dass ein kostenloser Onlineauftritt von Brockhaus den Verkauf der Brockhaus-Lexika im Direktvertrieb unmöglich machen würde. Gleichzeitig verließ die damaligen Gesellschafter von Brockhaus wohl der Mut. Der Aufsichtsrat, dessen Vorsitzender Andreas Langenscheidt war, rief daraufhin das Projekt, zurück.
Die Mitarbeiter von Brockhaus wurden über die Gründe für diese Entscheidung nie hinreichend informiert. Ist das Misstrauen der Belegschaft gegenüber der Geschäftsführung nicht verständlich?
Ja. Der Vertrauensverlust, der im Zeitraum von Januar 2008 bis zur Übernahme des B.I. durch die Cornelsen Verlagsholding im Jahr 2009 entstanden ist, wirkt bis heute fort. Das Verhältnis der Mitarbeiter zu dem Unternehmen und zu den leitenden Personen wurde nachhaltig beschädigt. Im Unternehmen spürten die Mitarbeiter während der sich lange hinziehenden Verhandlungen mit Bertelsmann, dass etwas nicht stimmte, und wurden zunehmend unruhig. Das Misstrauen gegenüber dem Vorstand und der Führung wuchs, weil niemand offen informieren konnte und die offiziellen Aussagen und die Realität immer weiter auseinanderklafften. Das hat sich auch später leider nicht erledigt, weil man niemandem erklären konnte und auch heute nur bedingt erklären kann, wer in diesem Spiel welche Rolle spielte. Die Wunden, die in dieser Phase bei einem Teil der Belegschaft geschlagen wurden, haben sich zu meinem Bedauern bis heute nicht ganz geschlossen. Wir hoffen, dass mit dem Neustart in Berlin Empfinden, Denken und Handeln wieder ganz auf die Gestaltung des zukünftigen Erfolges ausgerichtet werden können.
Dann kam die Phase, in der Teile der Patmos-Gruppe mit Publikums- und Kinderbuchverlagen unter dem Dach der Cornelsen-Gruppe nach Mannheim verlegt wurden. Ein Segment, das schwächelte …
Patmos war ein Verlag innerhalb der Cornelsen-Gruppe im Turn-around. Nach der Aufnahme des B.I. in die Gruppe ging es beim Heben der Synergien auch um Vertreter, um Vertriebssteuerung, um Logistik – und es machte Sinn, alles zusammenzubringen, auch das Kinderbuch, und es hat dem Unternehmen erst einmal gut getan, sich in diesem Segment zu stärken.
Am 24. Juli haben Sie dann aber kommuniziert, B.I. mit Ausnahme der Duden Sprachtechnologie nach Berlin zu verlagern. Die Standortverlagerung war zugleich mit einem Strategieschwenk auf den Fokus Schule, Bildung, Digitales verbunden. Lag all diesen Entscheidungen eine Wirtschaftlichkeitsüberlegung zugrunde? Oder anders gefragt: Was wäre passiert, wenn die Unternehmensteile in Mannheim geblieben wären?
Wir haben uns natürlich gefragt: Wie wird die noch fernere Zukunft aussehen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Branchenentwicklungen für unsere Angebote? Diese Fragen führten dazu, dass wir uns im Publikumsmarkt spezialisieren und auf Programme beschränken, die in einer führenden Marktposition sind. Wir sehen für das B.I. am Standort Berlin die große Chance, durch die Wahrnehmung verschiedener Services direkt am Standort – angefangen von der Lohnbuchhaltung bis zu Fortbildungen – die Fortexistenz nicht nur für die nächsten fünf Jahre, sondern auch darüber hinaus zu sichern und zugleich ein Potenzial für innovative Entwicklungen zu erschließen. Wir sehen das perspektivisch etwa beim Nachmittagsprogramm von B.I.: Da werden in den kommenden zwei oder drei Jahren im Zusammenspiel mit den Schulverlagen große Chancen entstehen.
Was tun Sie für die betroffenen Mitarbeiter am Standort Mannheim?
Um möglichst viele Mitarbeiter der zukünftigen, in Berlin angesiedelten Bereiche davon zu überzeugen, den Schritt mit dem Unternehmen nach Berlin zu tun, werden wir attraktive Angebotspakete schnüren. Dazu gehören die Hilfe bei der Wohnungssuche ebenso, wie die Übernahme von Umzugskosten und individuelle Unterstützung. Für diejenigen, die ausscheiden, weil wir Ihnen keinen Platz anbieten können oder sie nicht mobil sind, versuchen wir die Trennung so fair wie möglich zu gestalten. Aber auch die Transparenz, um die wir uns bemühen, erspart einem großen Teil der Mitarbeiter nicht die Frustration darüber, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das B.I. war und wird hoffentlich auch am neuen Standort ein ganz besonderes Unternehmen sein. Viele der emotionalen Regungen der letzten Wochen kommen auch aus der hohen Bindung und Identifikation der Mitarbeiter an ihr Unternehmen.
Sie haben damit begonnen, ein Beteiligungsportfolio für Digitales aufzubauen, in dem sie mit jungen Internet-Unternehmen zusammenarbeiten werden. Kommt das nicht einige Jahre zu spät, wenn man dies in Relation zu Aktivitäten der Mitbewerber setzt?
Ehrlich gesagt habe ich im Augenblick eher die Sorge, dass wir zu früh sind. Mit Blick auf den Bildungsmarkt gibt es für uns eine klare Leitlinie: Wir wollen keine »Early-stage«-Finanzierungen, fördern also keine Start-Ups, sondern konzentrieren uns auf Unternehmen, die bewiesen haben, dass ihr Geschäftsmodell trägt.Aber es ist nicht so, dass auf der Angebotsseite schon so viel vorhanden ist. Mein Eindruck ist, wir sind genau im richtigen Fahrwasser, wenn wir nächstes Jahr beginnen. Ich bin aber auch sehr gespannt, ob wir im nächsten Jahr bereits Unternehmen finden, die unseren Kriterien entsprechen. Die meisten Start-Ups haben derzeit noch ein Erlösproblem. Von 20, 30 Unternehmen werden vielleicht nur zwei oder drei überleben. Und es gibt aus unserer Sicht heute kaum ein Unternehmen, das unseren Kriterien entspricht.
Wenn zur Didacta 2013 die ersten digitalen Schulbücher der Cornelsen Schulverlage auf den Markt kommen, werden diese mit allen interaktiven und multimedialen Features ausgestattet sein, die man heute erwartet?
Sicher. Aber zunächst haben wir im kommenden Jahr auf einer strategisch-politischen Ebene eine Reihe von Botschaften zu verkünden. Das wird ein eigenes Thema. Und das hat mit der Situation an den Schulen und den fehlenden Mitteln für die digitale Ausstattung zu tun. Die ganzen Versuche mit den iPad-Klassen scheitern im Moment, weil es keine geeigneten Inhalte gibt. Um dieses Dilemma zu lösen, haben wir einen Ansatz entwickelt, den wir im Februar zur Didacta vorstellen werden.
Interview: Michael Roesler-Graichen
Zur Person
Alexander Bob (Jahrgang 1959), seit Oktober 2007 Geschäftsführer der Cornelsen Holding in Berlin, hat Medizin studiert und war von 1986–1990 als Arzt tätig. 1991 begann für ihn mit dem Einstieg beim Thieme Verlag die Verlagslaufbahn, die ihn 1998 zum Bibliographischen Institut & F. A. Brockhaus (Bifab) nach Mannheim führte. Von 2002 bis Ende September 2007 war er dort Sprecher des Vorstands.