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Über das Lesen außerhalb des goldenen Käfigs

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Wer E-Books nicht in Amazons "goldenem Käfig" lesen will, braucht komfortable Alternativen. "Tolino ist ein vielversprechender Ansatz, überzeugend wird das Angebot erst, wenn ein Branchenstandard, geschaffen wird, der in der gesamten Breite des deutschen Buchhandels erhältlich ist", meint Ronald Schild. 

'Walled Garden' oder 'geschlossenes Ökosystem' sind häufig gebrauchte Euphemismen für ein recht altes Prinzip, das beim digitalen Lesen mit bisher großem Erfolg praktiziert wird. Treffender könnte es mit dem Begriff des 'Goldenen Käfigs' bezeichnet werden. Nutzer werden von Amazon und Apple mit dem Versprechen der Einfachheit gelockt – und de facto in einem goldenen Käfig eingesperrt.

Natürlich ist der Kauf über den Kindle bequem: Bereits das Lesegerät kann einfach online bestellt werden und kommt vorregistriert auf den eigenen Amazon-Account nach Hause. Sofort loslesen, innerhalb von 60 Sekunden mit der bei Amazon hinterlegten Kreditkarte jedes beliebige E-Book herunter laden, über verschiedene Endgeräte automatisch synchronisieren: Was will der Leser mehr?

Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch die Schattenseiten:

- Will ich wirklich der gläserne Leser werden, der Amazon mitlesen lässt?

- Möchte ich preisgeben, welche Bücher ich in welcher Zeit und an welchem Ort lese?

- Akzeptiere ich, dass mein Händler mir vorgibt, auf welchen Geräten ich lese?

- Will ich riskieren, meine Bibliothek erneut kaufen zu müssen, wenn ich auf ein anderes Gerät umsteige oder meinen Kundenaccount lösche?

- Und letztlich: Will ich mich dauerhaft von meinem Buchhändler verabschieden und mich zum Kauf ausschließlich bei Amazon zwingen lassen?

Natürlich gibt es Alternativen. Wir haben mit dem Liro selbst eine davon geschaffen – und wissen, wie komplex dies ist. Die Liros finden mittlerweile ihren Markt und helfen Buchhändlern beim Geschäft mit E-Books; und doch fehlt ihnen das 'Ökosystem', das die Angebote von Amazon und Apple so komfortabel macht. Doch der Aufbau eines solches Ökosystems sprengt den finanziellen Rahmen, den ein einzelner Branchenteilnehmer stemmen kann. So kursierte vor kurzem die Meldung durchs Netz, dass Amazon allein 300 offene Stellen bei der Tochterfirma, die das Kindle-System entwickelt, besetzen wolle.

Was Not tut, ist eine gemeinsame Kraftanstrengung der Branche. Ein erster Ansatz konnte am Freitag in Berlin bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Thalia, Weltbild, Hugendubel, dem Club und der Telekom besichtigt werden. Der Tolino wurde vorgestellt: ein gemeinsames Lesegerät, eine gemeinsame, leistungsfähige Infrastruktur und gleichzeitig eine Vielzahl von unterschiedlichen Angeboten für Endkunden.

Mit Sicherheit ein vielversprechender Ansatz. Richtig überzeugend wird dieses Angebot aber erst, wenn nicht nur ein offenes System geschaffen wird, sondern vielmehr ein Branchenstandard, der auch in der gesamten Breite des deutschen Buchhandels erhältlich ist. Genau daran sollten wir als Branche in den nächsten Wochen und Monaten arbeiten.

Mit besten Grüßen

Ronald Schild