Der Markt für Sachbücher hat ein doppeltes Gesicht: Sachbücher sind einerseits populär wie eh und je – und scheinen doch zu schwächeln. 2012 gab es laut Media Control GfK International einen Umsatzrückgang um 6,1 Prozent, 2011 waren es sogar 7,4 Prozent – allerdings, das sollte dabei nicht vergessen werden, verlor das Segment auf hohem Niveau.
Noch im Jahr zuvor, 2010, sah die Entwicklung ganz anders aus: Da war das Sachbuch der große Gewinner – mit 14,4 Prozent Wachstum lag das Segment weit über anderen (Buchmarkt gesamt: plus 0,4 Prozent). Hauptverantwortlich dafür war Thilo Sarrazin: Ein Bestseller wie "Deutschland schafft sich ab" (DVA, ca. 1,2 Millionen verkaufte Exemplare allein 2010) demonstrierte die neuen Möglichkeiten des Metiers – Karrieren jenseits der Millionengrenze. Doch damit ist es wohl erst einmal vorbei.
Infos für lau? Wo das Internet dem Sachbuch seinen Platz streitet macht
Sarrazins Buch hatte sicher einigen Gehalt, vor allem aber bot es starke Standpunkte, es war ein Werk entschiedener Meinungsmache. Wo es aber um reinen Informationsgehalt geht, bekommt auch das Sachbuch die Konkurrenz des Internets zu spüren: Lexika und Nachschlagewerke sind von dieser Entwicklung besonders betroffen, zunehmend aber auch Themen aus dem großen Feld der Psychologie, Esoterik, Spiritualität und Anthroposophie (Warengruppe 93) und, vor allem, historische Sachbücher (Warengruppe 94).
Für sie ging es zwischen Mai 2012 und April 2013, wie eine Auswertung von Media Control GfK International für boersenblatt.net zeigt, ordentlich abwärts – das Minus lag bei schmerzhaften 14,3 Prozent. Insgesamt, also über alle Segmente der Warengruppe 9 hinweg betrachtet, ging es während dieses Zeitraums um 5,8 Prozent nach unten.
Verlage tun angesichts dieser Nachfrageflaute das Beste, was sie tun können: Sie machen weiter. Greifen die Fragen der Zeit auf, spüren Trends nach, anstatt sich nur auf das Offensichtliche zu reduzieren, besetzen sowohl Nischen als auch die großen, omnipräsenten, lautstark diskutierten Themen dieser Tage.
Finanzkrise, Banken, Geldadel
Ein wichtiges Thema bleibt im Sachbuch-Herbst 2013 die wankende Wirtschaft. Das Verunsicherungspotential ist hoch, selbst wenn befürchtete Horror-Szenarien bisher nicht eingetreten sind und der DAX gerade wieder mal durch die Decke schließt.
- Die Zwangsvollstreckung der Politik durch die Diktatur der Finanzmärkte analysiert Michael Hudson in "Der Krieg der Banken gegen die Welt" (Klett-Cotta, ca. 500 S., 24,95 Euro).
- Chrystia Freeland erkundet in "Die Superreichen" (Westend, ca. 320 S., 19,99 Euro) die abgeschottete Lebenswelt der Milliardäre, deren Anlage-Interessen den Banken oft vordringlicher erscheinen als die Sorgen der kleinen Sparer.
- Frederic Taylor beschreibt in "Inflation" (Siedler, ca. 450 S., 24,99 Euro) die Schrecken der wundersamen Geldvermehrung von 1922/23, den fatalen Betrug an der Mittelschicht, bis heute ein deutsches Trauma.
- Den heiteren Ton in ernster Sache beherrscht Georg von Wallwitz. Nach seiner fröhlichen Einführung in die Finanzmärkte ("Odysseus und die Wiesel“) erklärt er uns in "Mr. Smith und die Heuschrecken" (Berenberg, ca. 176 S., 20 Euro) jetzt, wie der Kapitalismus funktioniert und der Wohlstand erfunden wurde.
- Wie man Turbulenzen jeder Art am besten übersteht, weiß Holm Friebe: "Die Stein-Strategie" handelt von der „Kunst, nicht zu handeln“ (Hanser, ca. 200 S., 14,90 Euro).
Wahlzirkus, Umwelt, Internet und analoges Denken
Zum großen Schaulaufen vor der Wahl erscheinen unzählige Bücher, gern solche, die sich durch eine besondere Nähe zur Sache ins Gespräch bringen. Die Berliner Republik, lernt hier der Wähler, liegt im Grunde direkt nebenan: Der FAZ-Korrespondent Ralph Bollmann etwa porträtiert in "Die Deutsche" (Klett-Cotta, ca. 256 S., 17,95 Euro) Angela Merkel als Verkörperung des Deutschen nach dem Ende der politischen Lagerkämpfe, während FAZ-Feuilletonchef Nils Minkmar seinen Landsleuten Konkurrent Peer Steinbrück näherbringt. Minkmar hat Peer Steinbrück ein Jahr auf der politischen Ochsentour begleitet und bietet in "Der Zirkus" (S. Fischer, ca. 220 S., 19,99 Euro) eine Nahaufnahme des politischen Betriebs.
Zwei große politische Reportagen kommen aus den Vereinigten Staaten: Eric Schlosser deckt in "Control and Command" (C.H. Beck, ca. 540 S., 24,95 Euro) die Gefahren der Atomwaffenarsenale aus der Perspektive des Wartungspersonals auf, Mark Mazetti belegt in "Killing Business" (Berlin Verlag, ca. 416 S., 22,99 Euro), dass die CIA, einst als Spionage-Organisation gegründet, inzwischen zu einer weltweit agierenden Einsatztruppe von Schattenkriegern geworden sei.
Keine Saison ohne Aufrüttel-Bücher
"Wir sind nicht zu retten!", lautet der Aufschrei des Microsoft-Vordenkers Stephen Emmott; wie wir es vielleicht doch sind, zeigt seine Analyse "Zehn Milliarden" (Suhrkamp, ca. 220 S., 14,95 Euro) über die Menschheit am ökologischen Abgrund. Welche Bücher außerdem in diese Kategorie fallen, zum Beispiel:
- Bei Alan Weisman, Verfasser des Bestsellers "Die Welt ohne uns", läuft jetzt der "Countdown" (Piper, ca. 368 S., 19,99 Euro). Der Mensch habe nur eine Zukunft, wenn eine "globale Bevölkerungsreduzierung" gelinge – man fühlt sich an den neuen Dan Brown erinnert.
- Henrik M. Broder imaginiert indessen "Die letzten Tage Europas" (Knaus, ca. 160 S., 16,99 Euro); aus einer großen Idee sei eine kleinliche Ideologie geworden.
- Evgeny Morozov wiederum bietet in "Smarte neue Welt" (Blessing, ca. 450 S., 24,99 Euro) die längst fällige Kritik der Mythen des Internet-Zeitalters und beklagt, dass der Mensch in der digital optimierten Welt mit seinem analogen Denken ziemlich alt aussehe.
100 Jahre 1914
Umsatzbringer fürs historische Sachbuch sind große Gedenktage und Jubiläen. Die kommende Saison hat ein Thema, das für Aufwind sorgen dürfte: Bald jährt sich zum hundertsten Mal der Kriegsausbruch von 1914. Welche Neuerscheinungen hier besonders hervorstechen:
- Herfried Münklers Gesamtdarstellung "Der große Krieg" (Rowohlt, ca. 864 S., 29,95 Euro). Der Imperien-Spezialist führt die Leser von der Euphorie des Sommers 1914 zu den neuen Schrecken des totalen Krieges, den Stahlgewittern, Gasangriffen und Hungerblockaden.
- Christopher Clarke, der sich als Preußen-Spezialist einen Namen gemacht hat, zeigt in seinem 1.000-Seiten-Epos "Die Schlafwandler" (DVA, 39,99 Euro), wie Misstrauen, Fehleinschätzungen und Überheblichkeit zum Krieg führten.
- Ernst Piper legt mit "Nacht über Europa" (Propyläen, ca. 460 S., 26,99 Euro) eine "Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs" vor. Das Marine-Wettrüsten zwischen England und dem Deutschen Kaiserreich war einer der Kriegsgründe.
- Nicolas Wolz schildert in "Und wir verrosten im Hafen" (dtv, ca. 368 S., 21,90 Euro) den Seekrieg und das Fiasko der Deutschen Flotte, das zum Vorspiel der Revolution von 1918 gehört.
- Mit dem Friedensschluss von Versailles war die Gewalt bekanntermaßen keineswegs zu Ende: Jetzt begann ein unerklärter Bürgerkrieg zwischen linken und rechten Ideologen und ihren Landsknechten. Der Band "Krieg im Frieden", herausgegeben von John Horne und Robert Gerwarth (Wallstein, 320 S., 29,90 Euro) beschäftigt sich mit der paramilitärischen Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg.
Ein passendes Stück Kulturgeschichte bietet Christian Welzbachers Essay "Bunker – Expeditionen zum Nullpunkt der Moderne" (Matthes und Seitz, 160 S. 24,90 Euro). Hier geht es um Mythos und Ästhetik jenes Gebäudetyps, der wie der Wolkenkratzer zur architektonischen Signatur des Zwanzigsten Jahrhundert gehört.
Sozialismus, Kolumbus und die Dinosaurier, Jubiläen und Biografien
Auch andere große historische Werke warten auf Leser, die sich nicht mit Wikipedia-Happen begnügen wollen. Dazu gehören:
- Anne Applebaums viel gerühmte Darstellung Osteuropas hinter dem "Eisernen Vorhang" (Siedler, 800 S., 29,99 Euro) – sie zeigt, wie die Staaten zwangsweise in sozialistische Gesellschaften verwandelt wurden und der Totalitarismus ins Alltagsleben von Millionen Menschen sickerte.
- Charles S. Mann hat ein kulinarisches Buch über die Welt nach Kolumbus geschrieben: Kontinente gerieten in Wechselwirkung, so dass die Entdeckung Amerikas für das Leben auf der Erde zum folgenreichsten Ereignis seit dem Aussterben der Dinosaurier wurde, so die These ("Kolumbus' Erbe"; Rowohlt, ca. 768 S., 34,95 Euro).
- Volker Ullrich wagt das Unmögliche: noch eine minutiöse Biographie Adolf Hitlers, deren erster Band über die "Jahre des Aufstiegs" bis 1939 allein 1.000 Seiten umfasst. Der Mensch hinter dem Polit-Monster soll in seinen Antrieben gezeigt werden, Hitler nicht als Psychopath, sondern Meister der Verführung und Verstellung (S. Fischer, 24,99 Euro).
- Das Weihnachts-Verschenkbuch aber kommt von Neil McGregor. Der Direktor des British Museums hat mit seiner "Geschichte der Welt in 100 Objekten" viele verzaubert und belehrt; jetzt widmet er sich nach bewährtem Rezept "Shakespeares ruheloser Welt" und komponiert aus kleinen Fund-Stücken ein großes Epochen-Panorama (C.H. Beck, ca. 352 S., 29,95 Euro).
- Albert Camus, der Schriftsteller zwischen Revolte und Philosophie des Absurden, ist wieder erstaunlich aktuell. Der Ton der existentiellen Befremdung und die sinnliche Prägung durch das mittelmeerische Nordafrika gehören zu den Reizen seiner Prosa. Zum 100. Geburtstag erscheinen gleich drei Biographien mit intellektuellem Gewicht: von Iris Radisch ("Das Ideal der Einfachheit"; Rowohlt, ca. 288 S., 19,95 Euro), Martin Meyer ("Die Freiheit leben", Hanser; ca. 372 S., 24,90 Euro) und Michel Onfray ("Im Namen der Freiheit", Knaus, 576 S., 29,99 Euro).
- Die Groß-Biographie des Herbstes aber kommt von Rüdiger Safranski: "Goethe – Kunstwerk des Lebens" (Hanser, ca. 800 S., 27,90 Euro). Man ist gespannt, wie Safranski nach zwei Jahrhunderten Goethe-Philologie seinen hybriden Anspruch erfüllt, uns Goethe "wie zum ersten Mal" zu präsentieren.
Suhrkamp-Kultur zum Seufzen
Zum Glück gibt es die Bücher, die sich nicht so leicht einem Trend oder Modethema einfügen. Slavoj Zizek, Kult-Philosoph für die einen, Wirrkopf für die anderen, legt 1.200 Seiten über Hegel und die Folgen vor: "Weniger als Nichts" ist Suhrkamp-Kultur zum Seufzen (49,95 Euro).
Der Galiani-Verlag bietet mit "Nichts als der Mensch", herausgegeben von Georg Brunold wieder ein prächtiges Jubiläums Lesebuch mit allgemeinem anthropologischem Nenner (ca. 720 S., 85 Euro).
Lange erwartet wurde das neue lebensphilosophische Werk von Peter Bieri, der unterdessen als Pascal Mercier lieber Erfolgsromane schrieb; die Würde des Menschen ist sein alltagsnah verhandeltes Thema - "Eine Art zu leben" (Hanser, 384 S., 24,90 Euro).
Schließlich noch zwei Bücher, die Kulturgeschichte und Naturwissenschaft verbinden: Hugh Alderley-Williams ebenso fakten- wie anekdotenreicher Band "Anatomien" (Hanser, 350 S., 24,90 Euro) und, in der schönen Reihe "Naturkunden" bei Matthes & Seitz, die "Insektopädie" von Hugh Raffles: Es geht ums Verhältnis von Mensch und Motte – und all den anderen Krabbel- und Flügelwesen, die unser Leben begleiten ( 380 S., 38 Euro). Viel Stoff für Bücherwürmer.