Festvortrag von Gottfried Honnefelder

Der Wunsch nach dem Vergessen

27. Februar 2015
Redaktion Börsenblatt
Die im Internet angehäufte Informationsmenge ist riesig, und täglich wächst sie weiter. Wie verändert das unsere Kultur des Wissens? Wie können wir in Zukunft noch das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden? Überlegungen des Verlegers Gottfried Honnefelder zum Umbruch von der Buch- zur Digitalkultur.

Unter den Erzählungen, Essays und Gedichten von Jorge Luis Borges, die in den 1990er Jahren in deutscher Übersetzung erschienen, befindet sich unter dem Titel Das unerbittliche Gedächtnis das Porträt eines höchst bedauernswerten Menschen. »Was er nur einmal gedacht hatte«, so heißt es, »konnte er nicht mehr vergessen.« »Ich allein habe mehr Erinnerungen«, so stöhnt er, »als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht.« Und verzweifelt beschreibt er sein grenzenloses Wissen: »Mein Gedächtnis ist wie eine Abfalltonne.« Das grenzenlose Wissen hat sein Denken zerstört. In der voll-gepfropften Welt von Funes (dem Helden der Geschichte) gab es »nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art«.

Hat Jorge Luis Borges da avant la lettre den allwissenden Menschen des »new digital age« beschrieben? Und hat er nicht recht: Ist das im digitalen Medium akkumulierte riesige Wissen nicht schon jetzt zu einer Tonne geworden, in der Wichtiges und Unwichtiges, Altes und Neues, verderbliche Tageskost und überlebensnotwendige Nahrung unterschiedslos verschwinden – in einer Unterschiedslosigkeit, die uns den kulturellen Atem nimmt?

Sie werden mir entgegnen wollen, dass die Expansion des Wissens doch schon längst in der Welt der Mittel Gutenbergs eingesetzt hat. In der Tat, nie zuvor sind so viele Druckerzeugnisse auf die Menschheit eingestürmt, nie zuvor sah sich der Einzelne mit einer solchen Flut von gedruckten Informationen konfrontiert wie in den letzten Jahrzehnten.

Und doch: Der nicht kleinen Fülle des Gedruckten steht inzwischen eine unermessliche Menge von digital gespeicherten Daten gegenüber. Im Jahr 2012 umfasste das Datenaufkommen im Internet mehr als 26 Exabyte je Monat, eine Flut von Informationen, die die Informationen, die in allen je erschienenen Büchern enthalten sind, um das 2 500-fache übertrifft. Und jedes Jahr werden 30 Prozent Zuwachs erwartet. Zugleich ist der Speicherraum in ähnlicher Unermesslichkeit gestiegen. In den 50er Jahren kostete der Speicherplatz für 1 Megabyte noch 55 000 Euro, 2008 nur noch ein Hundertstel von einem Cent.

Auch der Raum der Information und Kommunikation hat sich grundlegend verändert: Fast 80 Prozent  der Bevölkerung sind online. Allein in Deutschland stieg der Anteil der Smartphone-Nutzer in einem Jahr um 52 Prozent, der Absatz an Tablets verdreifachte sich. »90 Prozent der Weltbevölkerung, die Handys besitzen«, so vermuten die Google-Häupter Eric Schmidt und Jared Cohen in ihrem Buch The New Digital Age, »haben sie 24 Stunden am Tag in nicht weniger als drei Fuß Entfernung bei sich.«
 
Vor welchen Umbrüchen in der Kultur des Wissens wir mit dem Eintritt in das digital age stehen, zeigt die bislang nicht abreißende Kette erbitterter Kontroversen. Worum es dabei in Wirklichkeit geht, ist der Streit um das, was wir als Wissen verstehen wollen, jedenfalls so lange als unter Wissen eine Erkenntnis gemeint ist, die nicht wie ein subjektloses Datum herumliegt, sondern durch das Ingenium eines Urhebers gewonnen und auf einen Kreis von Adressaten hin veröffentlicht wurde. Was ansteht, ist die Nichtreduzierbarkeit von Wissen auf Information, von Kommunikation auf Transfer, von Verstehen auf Speichern und von Schreiben auf das Aneinanderhängen von Informationsmodulen.

Wie jede Kultur braucht auch die Kultur des Wissens Wertschätzung und Schutz des Wissens. In der Buchkultur wurde dazu u. a. das Instrument der Buchpreisbindung geschaffen. Wird sie im Rahmen der anstehenden Freihandelsverhandlungen mit den USA auf Drängen der großen Internetanbieter wie Amazon, Apple oder Google geopfert werden, steht in den Augen der Kritik in the long run nicht – wie die Verteidiger behaupten – die Befreiung des Geistes vom Geld an, sondern die anonyme, ganz und gar manipulierbare Macht des Geldes über den Geist. Das Ende der stationären Buchhandlung wäre eingeläutet. Doch auch die ökonomische Rationalität rechtfertigt keine Umkehr der Rang- und Herrschaftsverhältnisse, wenn es um den Geist geht.

Was im Wechsel zum digital age auf dem Spiel steht, ist auch die private Kommunikation. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besuchte Edgar Degas – so berichtet Paul Valery in Tanz, Zeichnung und Degas – einen wohlhabenden Freund, der sich gerade das neueste Medium, ein Telefon, angeschafft und seinen Diener gebeten hatte, ihn zur Demonstration der neuen Errungenschaft während des Besuchs anzurufen. Stolz geht der Gastgeber beim Klingeln zum Apparat und kommt erwartungsvoll zurück: »Nun, Verehrter, was sagen Sie dazu?« »Soso«, kommt Degas' trockene Antwort, »… das also ist das Telefon? Man schellt Ihnen, und Sie rennen.« Wer beherrscht wen, wer rennt und wer diktiert – so lautet die Frage im Umgang mit den neuen Medien, die ja, wie schon das Wort sagt, Mittel sind und nicht selbstzweckliche Ziele.

Beginnt also das Medium seinen Nutzer zu verschlingen? Welche höchst realen Gefahren hier auftauchen, haben erst die jüngsten Kontroversen deutlich gemacht. Verknüpft man nämlich das gleichsam neutralisierte und homogenisierte Verständnis von Information und Kommunikation mit der Forderung nach unbegrenzter Speicherung und ebenso unbegrenztem open access, wird es schwierig, die personal data auszunehmen, die in der digitalen Kommunikation der vielen individuellen Nutzer entstehen. Wird auch hier der offene Zugang zur Norm, hieße dies nicht weniger als eine der wertvollsten kulturellen Errungenschaften wieder einzuziehen, nämlich die Differenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Mit dem geistigen Urheber eines Werkes droht auch das private Subjekt in der neuen Unübersichtlichkeit eines unterschiedslosen Informationspools zu verschwinden.

Fängt das neue, im allgegenwärtigen Internet unermesslich präsente Wissen an, den Charakter von Wissen zu ändern? »Der Mensch ist das Wesen, das wissen will« – lautet der erste Satz der Metaphysik des Aristoteles. Wissen zu wollen, Einsicht zu gewinnen, für sein Handeln Gründe angeben zu können, mit anderen Gedanken auszutauschen und sein Leben an überlegten Vorstellungen auszurichten – das ist es, was den Menschen ausmacht. Und nicht nur wissen will der Mensch, sondern das Gewusste auch bewahren. Deshalb wird das Gedächtnis vom Menschen als ein so hohes Gut betrachtet, deshalb ist die Kultur der aufbewahrbaren Dokumente entstanden.
Kein Gedächtnis mehr zu haben, bringt den Menschen um seine Identität. Doch alles im Gedächtnis zu behalten, lähmt Denken und Handeln. Deshalb ist Vergessen eine Last, aber zugleich eine Gnade, wobei wir stets hoffen, dass das Wichtige im Gedächtnis bleibt und das Unwichtige im Vergessen abstirbt. Als nach sieben Jahren der Ehemann in Fontanes Roman Effi Briest die Briefe des lange zurückliegenden Liebhabers seiner Frau Effi findet und damit das heilsame Vergessen durchbricht, bricht auch die Familie zusammen.

Anders als die Welt des beschriebenen Papiers kennt das Netz kein Vergessen. Kann die so wichtige Dimension des Vergessens – so fragt deshalb Viktor Mayer-Schönberger in seinem 2010 bei Berlin University Press unter dem Titel Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten erschienenen Buch – unter den Bedingungen des neuen Mediums wiedergewonnen werden und wenn ja wie? Die Lösung – so sein Ergebnis – darf nicht vom Individuum erwartet werden: Denn digitale Abstinenz seitens der Nutzer wird sich in der Breite nicht durchsetzen lassen und auch die Forderung nach einer kognitiven Anpassung an das »unerbittliche Gedächtnis« wird an der conditio humana scheitern. Sicher kann zu Datenschutzrechten gegriffen werden, die über ein System digitaler Rechteverwaltung zu einer Art Informationsökologie führen. Weiter als dies könnten nach Mayer-Schönberger eingebaute, von vornherein mit der jeweiligen Information verbundene Verfallsdaten dazu führen, würden sie doch in das System eben jenes Vergessenwerden wieder installieren, das das technische Medium zuvor vertrieben hat.

Damit aber kommt die entscheidende Aufgabe in den Blick, die allein das neue Medium von seiner Gefährlichkeit befreien könnte: eine Kultur des neuen Wissens zu entfalten. Denn Verfallsdaten setzen eine Gewichtung am Leitfaden der Bedeutung voraus, die der jeweiligen Information zukommt. Nur wenn zwischen Bedeutungssphären unterschieden wird, und dies einvernehmlich, kann die Privatsphäre geschützt und zugleich die Öffentlichkeit hergestellt werden, wie sie seit Einführung des Buchdrucks für entwickelte Kulturen unverzichtbar geworden ist.

Während die geistige Welt sich seit Gutenbergs Erfindung das Medium des Druckens auf Papier mit beweglichen Lettern selbst zu eigen gemacht und so geformt hat, dass eine Buchkultur entstand, ist der Prozess bei der Indienststellung der digitalen Zeichenwelt eher umgekehrt verlaufen. Das Medium verlängert sich in eine neue Kultur und es ist diese Kultur, von der die Kontroversen ausgehen.

Freilich ist die Spannung zwischen der Eigengesetzlichkeit und Selbstläufigkeit, mit der sich das Medium bislang entwickelt hat, und der geforderten kulturellen Dienstbarkeit erheblich. Das neue entstandene Medium ist eine rein syntaktische Struktur. Während die natürliche Sprache Syntax mit Semantik und Pragmatik unlöslich verbindet, ist das digitale, zunächst als Nachrichtentechnik zu militärischen Zwecken entwickelte Zeichensystem bedeutungsfrei; seine Semantik erhält es erst durch Zuordnung von außen. Das so entstandene Netz kennt aber – anders als die natürlichen Sprachen – keine Autorität, die mehr als formale Regeln setzen könnte.

Am deutlichsten ist die Größe der Herausforderungen durch die jüngste Kontroverse geworden, die um eine der wichtigsten Funktionen einer Kultur kreist, nämlich die Möglichkeit des Individuums, in einer gegebenen Kultur eine vernünftige Identität ausbilden zu können. Frank Schirrmacher hat auf die Umkehr der Verhältnisse hingewiesen, zu der die Verschmelzung der Sphären im neuen Medium führt. Wenn aus der digitalen Aufzeichnung meines Navigationsgeräts mein Bewegungsprofil, aus meinem registrierten Kaufverhalten meine individuellen Interessen, aus meiner digitalen Kommunikation meine Wert- und Gefühlspräferenzen hervorgehen, dann bedarf es nur noch eines geeigneten Algorithmus, um eine virtuelle Identität zu prognostizieren, die an die Stelle meiner realen tritt und meine Zukunft unter einen neuen, bislang unbekannten »technologischen Determinismus« treten lässt.

Darf eine demokratische Gesellschaft, so Schirrmachers conclusio, eine solche Preisgabe der Lebens­chance jedes Einzelnen hinnehmen? Schirrmacher selbst sieht Ansätze für eine erfolgreiche Antwort auf die skizzierte Herausforderung, nämlich für eine Indienstnahme des neuen Mediums durch die Kultur (und nicht deren Gegenteil) in den Alternativsystemen, die die Tradition Europas bereithält. Und in der Tat muss die Lösung zuallererst an dem orientiert sein, was Kultur kennzeichnet. Nicht ohne Grund hängt Kultur so eng mit der Sprache zusammen, die als Bedeutung tragendes Zeichensystem die schon genannten drei Dimensionen von Syntax, Semantik und Pragmatik gleichursprünglich umfasst. Denn Sinn entsteht erst da, wo etwas nicht nur funktional benannt, sondern als etwas verstanden wird, und dies geschieht im Kontext von Sprecher und Hörer, das heißt in interpersonaler Kommuni­kation. Die mit Gutenberg beginnende technische Möglichkeit des Buchdrucks hat schon früh Form und Gestalt gewonnen, die mit Recht von einer Buchkultur sprechen lässt und diese Buchkultur zu einem Element gemacht hat, das sich für moderne Kulturen bislang als unverzichtbar erwiesen hat.

Da ist die Permanenz, die einen Text in seiner Authentizität sichert und verlässlich macht. Der gedruckte Text besitzt sie durch seine Dauerhaftigkeit und Unveränderbarkeit. Die digitale Welt muss Äquivalentes erst entwickeln. – Da ist zum zweiten die Selektivität, ohne die sich Bedeutungen und Bedeutungssphären nicht entwickeln können, jenes »unterscheidende Denken«, von dem Borges befürchtet, dass es angesichts des Einerleis eines unerbittlichen Gedächtnisses verloren geht. Die Buchkultur hat die Kriterien entwickelt, die Selektion zulassen. Die digitale Welt muss auch hier Äquivalentes erst entwickeln, soll der Nutzer sich nicht in der ›Gleich-Gültigkeit‹ der gespeicherten Informationen verlieren. – Und da ist schließlich das institutionelle Gefüge, das die Vermittlungsleistung ermöglicht, ohne die sich der Komplex von Autor, Werk und Leser, von Privatem und Öffentlichem, nicht entfalten kann. In der Buchkultur ist diese Vermittlungsstruktur über Jahrhunderte gewachsen. In der digitalen Welt muss diese Institutionalität allererst gewonnen werden und dies angesichts der Reichweite des Mediums weltweit.

Die Gefahren, so wurde deutlich, die derzeit mit dem neuen Medium des Wissens verbunden sind, sind kein Grund, das Medium auszuschlagen oder zu umgehen. Zu groß sind die Möglichkeiten, die mit dem neuen Medium verbunden sind – auch aus der Perspektive der Buchkultur, die von dem neuen Medium ja keineswegs ersetzt werden wird, der sich vielmehr dadurch neue Möglichkeiten erschließen. Und zu sehr sind die Gefahren nicht Folgen des Mediums, sondern Resultat unseres mangelnden Umgangs.

Natürlich lassen sich die strukturellen Seiten der Buchkultur nicht analog auf das neue Medium übertragen, und doch sollten wir sie als die Folie dafür betrachten, wie sich eine Gesellschaft der Herausforderung eines neuen Mediums stellt, welche Desiderate dabei als unaufgebbar zu betrachten sind und welche Prinzipien die notwendigen Eckpfeiler bilden. Vor allem wird die strukturelle Mehrgliedrigkeit dabei wichtig sein, die die Buchkultur bei der Indienstnahme ihres Mediums entwickelt hat: Ich nenne nur die Verbindung von privater Initiative und öffentlicher Institutionalität, von kultureller Autonomie und ökonomischen Interessen, nicht zuletzt von Sphärentrennung, Unterscheidungs- und Selektionskriterien und Strategien des Vergessenwerdens.

Dies alles wird sich nicht von selbst einstellen. Galt das Netz – so fragt der Interviewer des Spiegels einen der Kenner des Netzes, Evgeny Morozov – nicht »ursprünglich doch als Hort der Freiheit«? Morozovs Antwort: Der Einfluss der digitalen Welt, wie sie sich bislang darstellt, ist »zu groß geworden, als dass wir einfach nur zusehen könnten«.

 

Ein Festvortrag in Salzburg

Zum Abschluss der Salzburger Hochschulwoche 2013 hielt Prof. Dr. Gottfried Honnefelder am 4. August in der Großen Aula der Universität den Festvortrag. Sein Thema: »Über den Schrecken vor einem unerbittlichen Gedächtnis und den Wunsch nach dem Vergessen. Überlegungen eines Buchverlegers zum Umbruch von der Buch- zur Digitalkultur«. Die diesjährige Salzburger Hochschulwoche stand unter dem Leitthema »Gefährliches Wissen«. Honnefelder nahm die Gelegenheit wahr, die Rolle der Buchkultur für eine neue Kultur des Wissens im augenblicklichen Umbruch zur Digitalkultur zu bestimmen. Wir veröffentlichen seinen Festvortrag hier in einer gekürzten Fassung.