Interview zur Situation der Buchkunst

"Mit einer Mischung aus Geld und Leidenschaft"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Was gilt aktuell als "schönes Buch", brauchen wir solche Titel und was mögen Buchhändler an der Buchkunst? boersenblatt.net sprach mit Hatje Cantz-Programmleiter Martin Wichert, Buchkünstlerin und Jurorin Ilona Kiss und Büchergilde Gutenberg-Geschäftsleiter Dieter Bund über schöne Bücher, verlegerisches Engagement und das Geld, das bei allem nicht fehlen darf ...

Was gilt 2014 als ein schönes Buch?
Bund:
Ein Buch, das sich gut anfasst und schön gestaltet ist, das über den Inhalt hinaus die passende Form hat, um attraktiv zu sein. Raymond Chandler zum Beispiel: „Der große Schlaf“. Das ist ein klassischer Krimi, den Thomas Müller neu illustriert hat. Er hat damit eine neue Aufmerksamkeit und eine neue Atmosphäre für das Buch geschaffen. Und so was wird dann immer den Verkauf anstoßen.
Kiss:
Ein schönes Buch ist intelligent und voller Information. Es hat eine Präsenz in den Bildern, ist nicht zu aggressiv, ist hübsch und harmonisch. Es erzählt von der Natur, den Städten Europas und der Welt, von Menschlichkeit und von Kindern – die unsere Zukunft sind. Vor allem erzählt es: den Frieden.
Wichert:
Ich glaube, das hat sich über die Jahre und Jahrhunderte nicht wirklich geändert, auch wenn der Zeitgeschmack sicher ein gewisser Faktor ist. Und obendrein spielen persönliche Vorlieben und subjektive Empfindungen immer eine große Rolle. Für mich ist ein schönes Buch eines, bei dem Inhalt und Form in angemessener Weise zusammenkommen. Das muss überhaupt nicht laut und ausgefallen sein, sondern vor allem einen stimmigen, nicht zuletzt auch emotional überzeugenden Eindruck hinterlassen.

Was gefällt heute den Buchhändlern an der Buchkunst?
Kiss:
Die Buchhändler suchen das, was sowohl technisch als auch gedanklich neu und originell ist: Das können neue Autoren sein, aber auch Klassiker, die man heute wiederentdeckt, wie Jean Tardieu, wo der Text und die Persönlichkeit ein stimmiges Ganzes ergeben. Tardieu ist schon lange tot, aber er könnte ein Autor von heute sein: er erzählt genau das Chaos, das unseren Alltag heute beherrscht: Wir sind umgeben von Menschen und fragen uns: „Was macht der jetzt wohl? Wo geht jener dort hin?“ Und diese chaotischen Situationen beschreibt er mit Humor und Kultur.
Wichert: Glücklicherweise sind die meisten Buchhändler nach wie vor Menschen, die Bücher lieben. Und jeder Buchliebhaber weiß ein schönes, besonderes, gut gemachtes Buch zu schätzen. Durchaus auf jeweils ganz persönliche Art, aber das ist ja gerade das Schöne daran.
Bund: Diejenigen Buchhändler, die die Buchkunst schätzen, schätzen sie, wie man ein Feinkost-Sortiment schätzt: Man liebt die Besonderheiten, das was attraktiv ist und keine Massenware. Es sind Besonderheiten, die man braucht, um den Gesamteindruck des Buchhandels auszuschmücken. Dazu gehört ein besonderes Design, das für eine besondere Gesamtatmosphäre sorgt.

Wie finanzieren Verlage heute die vergleichsweise teureren Buchkünstler?
Wichert: Wie bei jedem Buch und jedem Buchprogramm mit einer Mischung aus Geld und Leidenschaft. Auch bei kunstvollen, aufwändigen Produktionen muss die wirtschaftliche Seite irgendwie stimmen. Aber ohne Zweifel investieren alle Beteiligten in solche Projekte überproportional Herzblut, Zeit und Engagement – und das lässt sich nicht immer mit Geld aufwiegen. Dennoch halte ich gerade das Ringen zwischen künstlerischer Kreativität und technischer wie finanzieller Machbarkeit für einen im Grunde fruchtbaren Prozess, denn am Ende soll ja idealerweise nicht nur ein schönes Buch, sondern auch ein verkäufliches dabei herauskommen.
Bund: Die Büchergilde Gutenberg finanziert die Buchkunst über ihre Mitglieder: Durch die Buchgemeinschaft haben wir einen direkten Zugang zu den Leserinnen und Lesern über unsere Magazine und unsere Werbung. Durch unsere Nähe zum Lesepublikum wissen wir leichter, was ankommt, und aufgrund dieser direkten Nachfrage können wir dann kalkulierbare Auflagenhöhen machen. Es gibt ein Publikum für besondere Bücher - man muss es nur erreichen.

Welche Anreize hat ein Verlag, um mit Buchkünstlern zusammenzuarbeiten?
Wichert:
Jedes Buch besteht nicht nur aus seinem Inhalt, es ist vielmehr eine Art kleines Gesamtkunstwerk, das im Zusammenspiel von Gestaltung, Materialität, Typografie und inhaltlicher Aufbereitung seine Wirkung entfaltet. Somit geht es nicht allein um „Content“, sondern immer um die Form der Vermittlung. In diesem Sinne sehe ich eigentlich alle an der Entstehung eines Buches Beteiligten als „Buchkünstler“ an – ohne diese würden wir kulturell deutlich verlieren. Dem Content den richtigen Kontext zu verschaffen – das ist der Anreiz.

Brauchen wir im Zeitalter von E-Book und iPad noch Buchkunst – und wenn ja, warum?
Bund: Wegen der Sinnlichkeit, die beim Leser immer eine Rolle spielt: E-Book hat seine Berechtigung, aber man liebt beim Lesen das Besondere, wir leben in einer analogen Welt. Und dann hat sich der Schriftsteller mit dem Buch ja auch Mühe gegeben und lange an seinem Text gearbeitet. Dazu gehört eine passende Form, die ausdrückt, dass man sorgfältig mit den Inhalten des Schriftstellers umgeht. Das ist etwa so, wie wir uns ab und zu ein schönes Menü gönnen, es gibt beim Lesen immer auch einen Genuss-Aspekt. Und dieses Bedürfnis gibt es auch in Zukunft.
Kiss: Wir sind Menschen: Wir haben Durst nach Kunst. Das iPhone hilft uns wohl im Alltag und ist da auch etwas Ausgezeichnetes. Aber es gibt im Leben Stunden, in denen die Seele feiert, da brauchen wir die Buchkunst: Sie stellt eine Harmonie her zwischen Farben, Formen und Text, an der zu sehen ist, dass es der Künstler selber ist, der sein eigenes Buch geschrieben hat. Ein Kunstbuch entsteht als harmonisches Ensemble, dabei sind die Materialien in das Thema mit integriert. Zum Beispiel kann man verschiedene Materialien und Papiersorten mischen, wenn man Collagen macht, und das ergibt dann ein viel stärkeres Bild.
Wichert: Der reine Content – auf den viele E-Publikationen heute reduziert sind – ist nicht alles. Andererseits glaube ich, dass auch eine digitale Umsetzung hochkünstlerisch sein kann. Wir sollten in der Zukunft mehr auf ein mediales Neben- oder besser noch Miteinander setzen.

Kaufen E-Book-Kunden auch sorgfältig gefertigte Buchkunst?
Wichert: Klar, warum nicht? Ich sehe da keinen grundsätzlichen Widerspruch. Vielleicht will ich das E-Book zum praktischen Lesen in der U-Bahn oder für den reinen Unterhaltungsschmöker, erfreue mich aber zu Hause gleichermaßen an einem sorgfältig gestalteten Kunstbuch oder einem typografisch besonders aufbereiteten Briefwechsel wie in dem wunderbaren Buch über Meret Oppenheim, das die Goldene Letter der Stiftung Buchkunst erhalten hat.
Kiss: Ich kann mir beides parallel vorstellen: E-Book für die reine Auskunft und das künstlerische Buch für die ganzen besonderen Augenblicke.

Sieht man deutschen Büchern heute noch an, dass Deutschland das Mutterland des Buchdrucks ist?
Wichert: Definitiv nicht: Ein Blick auf die Preisträger bei den „Schönsten Büchern aus aller Welt“ der Stiftung Buchkunst ist dafür der beste Beweis. Überall auf der Welt gibt es erstklassige Buchkunst und höchste Qualität und leider auch jede Menge Schrott – inhaltlich wie herstellerisch.

Unterscheidet sich die Zusammenarbeit zwischen Buchkünstlern und Verlagen in Deutschland noch von der Zusammenarbeit in anderen Ländern?
Wichert:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da irgendwelche entscheidenden Unterschiede gibt: Buchkünstler denken nicht in Ländergrenzen.

 

Dieter Bund ist Geschäfts- und Marketingleiter der Büchergilde Gutenberg. Die Buchkünstler bewerben sich bei der Büchergilde initiativ oder werden auf Buchmessen und Ausstellungen gescoutet.

Ilona Kiss stellt als Buchkünstlerin und Grafikerin in Budapest, Paris, Frankfurt und Helsinki aus und war 2000 in der Stiftung Buchkunst Mitglied der Jury „Die schönsten Bücher aus aller Welt“.

Martin Wichert ist Programmleiter bei Hatje Cantz, wo Klassiker-Ausgaben und Jungtalentförderung Hand in Hand gehen.

 

Frühling der Buchkunst: Fünf Tipps

  • Tomi Ungerer: Babylon. Diogenes, 172 Seiten, 29,90 Euro
  • Benjamin Sommerhalder: Knigi. Diogenes, 24 Seiten, 14,90 Euro
  • Zentrum Paul Klee: Die Tunisreise 1914 – Paul Klee, August Macke, Louis Moilliet. Hatje Cantz, 336 Seiten, 29,80 Euro
  • Peter Rühmkorf: Der Hüter des Misthaufens. Illustriert von Jens Bonnke Edition Büchergilde, 256 Seiten, 24,95 Euro
  • Alexander Roob: Alchemie & Mystik. Taschen, 576 Seiten, 14,99 Euro