Eine Marktanalyse der digitalen Verlagsimprints

Strategische Vielfalt

24. Mai 2018
von Nils Kahlefendt
Starke Inhalte oder Labels für jedes Genre? Die digitalen Imprints der Publikumsverlage gehen unterschiedliche Wege in der Kundenansprache. Eine Marktanalyse.

Hat jemand Emily Bold gesehen? Wenn die Loveletter Convention Mitte Mai in Berlin zum siebten Mal ihre Tore öffnet, stehen vor allem Mädchen lange an, um ein paar Worte mit ihren Lieblingsautorinnen zu wechseln oder ein Selfie zu machen. Für Simon Decot, seit September 2015 Verlagsleiter für LYX und das digitale Programm bei Bastei Lübbe, ist das Liebesroman-Gipfeltreffen Pflichttermin – spätestens, seit man 2016 das auf romantische Unterhaltung spezialisierte Label LYX von Egmont übernommen hat. Mit Stars wie der in den sozialen Netzwerken sehr aktiven Autorin Mona Kasten  ("Again") rangiert LYX derzeit in den Paperback-Top-Ten. Mit rund 80 bis 90 neuen E-Only-Titeln pro Jahr gehört das Label zugleich zu den größeren Digitalverlagen der Republik.

Für Decot ein Glücksfall: "LYX funktioniert extrem stark über die Marke. Und deckt dazu ein weibliches, jüngeres Portfolio ab, das wir in der Form bei Bastei Lübbe nicht hatten." In Zeiten, da die Einzeltitelvermarktung immer teurer und schwieriger wird, ist solch ein spitz auf die Zielgruppe zugeschnittenes Label Gold wert. Eine Erfahrung, die im Oktober 2016 auch beim Launch des Digitallabels be mit den Submarken beThrilled, beHeartbeat und beBeyond) Pate stand: "Bis dahin ging unser E-Only-Portfolio in der Menge der digitalen Übernahmen aus dem Printbereich ein wenig unter, alles war unter Bastei Entertainment subsummiert", erklärt Decot.

Auch bei Piper wird der Digitalbereich neu geclustert, seit Eliane Wurzer vor gut einem Jahr übernahm. Wurzer baute die Self­publishing-Plattform Neobooks mit auf (die kürzlich vermeldete Kooperation der Holtzbrinck-Tochter mit Piper ist da nur folgerichtig) und war zuletzt bei Holtzbrinck ePublishing für die Entwicklung der Plattformen feelings und Topkrimi verantwortlich. Die Münchner launchten Anfang des Jahres gleich vier neue Genre-Labels (Piper Gefühlvoll, Piper Schicksalsvoll, Piper Spannungsvoll und Piper Humorvoll), die Piper Fahrenheit ablösen. "Da bei Fahrenheit Originalausgaben und Backlist-Digitalisierung querbeet über alle Genres unter einem Dach angeboten wurden, hatte das Ganze einen Hang zum Gemischtwarenladen. Nun haben wir für die vier Sublabels klare Programmlinien und klare Zielgruppen definiert." Neue Wege in der Autoren-Akquise geht Piper Digital mit dem Newpipertalent Award – wobei die Kooperation mit der Social-Reading-Plattform Sweek sinnvoll ist: "Durch Selfpublishing und Social-Writing-Formate sind unheimlich viele talentierte Autoren unterwegs, die nicht mehr über die klassischen Wege zum Verlag kommen", erklärt Wurzer. Bis Mitte März reichten 260 Teilnehmerinnen 141 komplette Manuskripte "mit 16 Millionen Wörtern" ein. Die Masse stimmt – über die literarische Klasse befindet nun eine Jury, der Sieger wird am 25. Mai verkündet.

Bei Ullstein stand am Beginn der digitalen Aktivitäten der Wunsch, Erfahrungen in einer sich neu formierenden Leser- und Autorenwelt zu sammeln. Oder, wie Marguerite Joly, Leiterin Neue Geschäftsinitiativen, fast ein wenig pathetisch formuliert: "Wir wollen das Beste aus beiden Welten kombinieren – die Freiheiten, die die Autorinnen gewohnt sind, und unsere Expertise als Verlag." Im Sommer 2014 erschien das erste Programm der digitalen Imprints Midnight (Spannungsliteratur) und Forever (Frauenunterhaltung). Ende 2015 kam das Label Refinery mit Backlist-Neuauflagen dazu; das Spektrum reicht vom Sachbuch bis zu populärer Unterhaltung – exemplarisch etwa die Ausgrabung der Seekriegsromane, die der Brite Douglas Reeman unter dem Pseudonym Alexander Kent schrieb. Das klingt nach routiniertem Brot-und-Butter-Geschäft und, immerhin, einer ausgeglichenen Bilanz, doch Joly will mehr: Man könne, sagt sie, ihre Abteilung auch als eine Art "Research- and Development-Lab" begreifen. "Unsere Prozesse sind schnell und flexibel, wir können in einem relativ risikoarmen Umfeld Erfahrungen sammeln – das wirkt dann auch in die Print-Welt zurück. Am Ende profitieren beide Seiten." So gab es etwa vor anderthalb Jahren einen Print-to-Stock-Testlauf mit erfolgreichen Digitaltiteln; inzwischen finden Buchhändler und Blogger die Printtitel regelmäßig auf Onlineplattformen wie NetGalley.

Über Mut und Fantasie verfügen die Macher digitaler Projekte reichlich, sprudelnde Erlöse sind oft noch Zukunftsmusik. Es war ein Statement, als der Hanser Verlag 2014 begann, Woche für Woche einen neuen Titel zu produzieren, den es nur in der Hanser Box gab: Wir können auch digital! Ökonomisch ist das E-only-Label der Münchner im Konzert der Verlagsgruppe zu vernachlässigen, spannend ist das Programm nach wie vor. Im Wettbewerb mit den genregetriebenen Umsatzbringern haben es die Autoren, die man auch aus dem Hanser-Hauptprogramm schätzt, schwer. Der Rhythmus von einer zunächst wöchentlich, dann monatlich befüllten Box wurde inzwischen runtergefahren – die Titel erscheinen unregelmäßig, quasi "auf Zuruf".

Mit dem Start von Edel:eBooks im Frühjahr 2012 (seit 2016: Edel Elements) setzte auch das Medienunternehmen von Michael Haentjes auf die Kombination von Oldschool-­Publishing und Digitalkompetenz. Seit Mai 2015 führte Karla Paul das von Silvia Kuttny-Walser aufgebaute Unterhaltungsprogramm von Edel Elements und das literarischer ausgerichtete Label edel & electric. Nachdem Paul das Unternehmen Ende letzten Jahres verlassen hat, rückte Christian Gogic, langjähriges Mitglied im Edel-Team, nach. Das Programm der Digitalsparte umfasst mittlerweile über 1.100 Titel, der Fokus liegt auf Unterhaltung quer durch alle Genres. Zum Portfolio zählen Topautorinnen wie Sophia Farago, Rebecca Maly undHeike Wanner. "2018 bringen wir über 200 Titel heraus, davon sehr viele Originalausgaben", so Gogic. Für 2019 sei ein Anstieg der Produktion von E-Books zu vergriffenen Printtiteln geplant.

Derzeit scheinen superspitze Zielgruppen hoch im Kurs zu stehen. Hier ein Label für witzige Frauen­bücher, dort eins für traurige – ist das die Zukunft? Nein, meint Oliver Pux, Digitalchef bei Aufbau. "Wir sehen Aufbau als Qualitätsmarke, sodass reine Digitalprodukte auch auf diesen Namen einzahlen. Wir haben ein neues Label im Haus diskutiert, uns aber dann ganz bewusst dagegen entschieden." Bei Aufbau Digital werden sowohl Backlistperlen ausgegraben – die bei Erfolg, wie die Krimis von Carola Dunn, auch wieder ins Printprogramm wandern – als auch neue E-only-Stoffe entwickelt.

Auch Beate Kuckertz sieht in einer übertriebenen Clusterung des Programms kein Allheilmittel: "Zielgruppen erschließt man über die Händler, über funktionierende Metadaten und – natürlich über die richtigen Bücher. Aber nicht über ein Label." In ihrer eigenen Firma ist die Segmentierung denn auch übersichtlich: Dotbooks, im Februar 2012 als digitaler Publikumsverlag gegründet, die Tochter Jumpbooks (2016) als Kinder- und Jugendbuch-Imprint – und, als eigenständige GmbH, der Erotikverlag Venusbooks (2015). Neun Mitarbeiter sind für die drei Verlage tätig; insgesamt sind bis heute an die 3 000 Ti­tel lieferbar, das ist mehr, als die meisten großen Publikumsverlage vorzuweisen haben. Das Verhältnis Originalausgaben zu Wiederveröffentlichungen liegt heute bei ungefähr 35:65. Das Geschäft boomt nicht mehr so wie noch 2015, wo sich Monatsumsätze im Vergleich zum Vorjahr verdoppelten. Aber: "Wir machen weiter Bücher für Vielleser, für Menschen, die im Genre unterwegs sind, die Bestsellerlisten rauf- und runtergelesen haben – und nun entsprechend ähnliche Stoffe suchen."

Die zur Holtzbrinck-Verlagsgruppe gehörenden Buchverlage verfolgen, gerade in der Produktentwicklung, je eigene Strategien – zu nennen wären hier etwa die KiWi Bibliothek (Retrodigitalisierungsprojekt, gestartet 2016), Fischer digiBook (Belletristik und Sachbuch als digiOnly, digiFirst oder digiApp, gestartet Sommer 2015) oder Rowohlt Rotation, gestartet im März 2016 zunächst als Plattform für digitale Kurztexte des Verlags. Bei den Reinbekern hat Katharina Haas Ende März die Funktion der Programm-Managerin Digital übernommen. Haas ist dabei für die Koordinierung von E-only-Projekten für Rotation zuständig, wobei es, ähnlich wie bei Hanser Box, keine festen Erscheinungstermine oder Formatfestlegungen mehr gibt. Daneben kümmert sie sich auch um die digitalen Programme Monografie, Theater und Repertoire. Zu Letzterem wurde 2016 eine Taskforce gegründet, die nicht lieferbare Backlisttitel ins E-Book überführte. Nach rund 1.000 Titeln wird das Projekt 2018 auslaufen, nun wird auch die lieferbare Backlist digitalisiert.

Daneben wurde im Oktober 2016 mit der Holtzbrinck ePublishing eine Einheit gegründet, die das Ziel verfolgt, in den Bereichen Marketing, Vertrieb, Produktentwicklung / Business Development digitale Strategien übergreifend für die Verlagsgruppe nach vorn zu bringen. Eine der Querschnittsmaßnahmen, die für alle Verlage aufgesetzt wurden, sind die Genre-Labels feelings (2014 noch als Droemer-Knaur-Projekt begonnen) und Topkrimi (2017 gestartet). Beide dienen dazu, innerhalb eines Genre-Segments möglichst viele interessierte Leser zu mobilisieren und ansprechbar zu machen – ähnliche Wege gehen das Romance-Portal sinnliche-seiten.de und die Leserinnen-Convention lit.Love von Random House (beide 2016 gestartet) oder das Sci-Fi-Portal diezukunft.de (Heyne).

Michael Döschner-Apostolidis, der an der Gründung der Holtzbrinck ePublishing maßgeblich beteiligt war und die Unit heute gemeinsam mit Josef Röckl (CEO) als COO führt, zeigt sich zufrieden mit der bisherigen Entwicklung: "Im digitalen Raum ist es ja eine der großen Herausforderungen für die Verlage, jenseits der großen Plattformen von Amazon, Apple oder Thalia auch selbst Bezug zu bestimmten Kundengruppen zu entwickeln. Über solche inhaltsgetriebenen Ansprechsituationen gelingt uns das ziemlich gut." Für Döschner-Apostolidis, unter anderem Sprecher der IG Digital des Börsenvereins, ist der digitale Buchmarkt insgesamt immer noch eine der wenigen "Wachstumsstorys" – auch wenn die Verlage nicht automatisch die Profiteure sein müssen. "Wir müssen immer besser lernen, wie wir im digitalen Raum unsere Bücher und E-Books an die Endkunden bringen. Gerade in einer Zeit, wo Selfpublisher auf den wichtigsten Handelsportalen immer mehr Sichtbarkeitsplätze erobern."