Gastland Litauen

Einfacher wäre es anderswo

2. März 2017
von Holger Heimann
Litauen ist seit gut 25 Jahren eine unabhängige Nation. Selbstverständlich ist das Lesen und Leben in Freiheit keineswegs, und einfach schon gar nicht. Die Buchnation Litauen stellt sich in Leipzig als Gastland vor. 

Es war eine Ausnahmezeit: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten Verlage und Buchhandlungen in Litauen Anfang der 90er Jahre einen einmaligen Aufschwung. Das ganze Land atmete auf, nachdem es unabhängig von der Moskauer Zentralmacht geworden war. Verbote und Einschränkungen fielen weg, Literatur boomte.

"Erst seit der Unabhängigkeit ist es möglich, alle gesellschaftlichen Proble­me, alle Beziehungsprobleme offen anzusprechen. Es gab sehr starke politi­sche, aber auch gesellschaftliche Tabus", sagt der Wiener Übersetzer Cornelius Hell, der in den 80er Jahren in Vilnius gelebt hat: "Noch Mitte der 80er Jahre war es unerhört, dass Ehescheidungen oder verwahrloste Kinder Einzug in die Prosa gehalten haben." Die Litauer stürzten sich regelrecht auf die neu erschienenen Bücher, Startauflagen von 13.000 Exemplaren waren nicht ungewöhnlich – bei einer Bevölkerungszahl von seinerzeit 3,7 Millionen Menschen! Rund 5.000 neue Titel erschienen pro Jahr. Vielleicht war die Bezeichnung vom Leseland nie treffender als für das Litauen jener Zeit.

Heute beträgt die Durchschnittsauf­lage (immer noch beachtliche) 1.300 Exemplare, zuletzt wurden 3.400 Titel veröffentlicht. Im Schnitt kostet ein Buch elf Euro – viel Geld bei einem Monatsverdienst von rund 800 Euro. Überdies ist fast ein Viertel der Bevölkerung in den letzten Jahren ausgewandert. Die Verdienstmöglichkeiten für die häufig gut ausgebildeten, jungen Litauer sind im westlichen Europa deutlich besser.

Zwar rechnet der litauische Außen­minister Linas Linkevičius vor, dass der Lebensstandard mittlerweile bei 75 Prozent des europäischen Durchschnitts liege, doch der Aufschwung im Land, der durch die Wirtschaftskrise von 2008 einen Dämpfer erhielt, hat die Abwanderung nicht stoppen können. Aber vielleicht kehren die Wirtschaftsemigranten wirklich größtenteils zurück, wie der Außenminister hofft. Die Stimmung im Land, das seit 2004 zur EU ­gehört, ist jedenfalls keineswegs depressiv. "Die Situation für die Buchverlage ist stabil, aber auf einem geringeren Niveau als in den 90er Jahren", sagt Aida Dobkevičiūtė, Geschäftsführerin des litauischen Verlegerverbands. Womöglich hat einfach eine gewisse Normalität Einzug gehalten.

"Natürlich hat die Literatur ihre Rolle als Ersatzöffentlichkeit verloren", sagt Cornelius Hell: "Wenn man jemanden ins Gefängnis sperrt und ihm drei Bücher gibt, dann werden diese drei Bücher eben intensiv gelesen. Man sollte deswegen aber keine nostalgische Erinnerung an das Gefängnis aufbauen", sagt Cornelius Hell. Das tut auch kaum jemand in Litauen, im Gegenteil.

Ein starkes Interesse für die Welt außerhalb der Heimat mag typisch sein für kleine Länder, in Litauen ist es besonders ausgeprägt. Übersetzungen aus anderen Sprachen (Englisch mit großem Vorsprung vor Deutsch und Französisch) machen rund 60 Prozent der Buch­produktion aus. Doch es gehört ohnehin zum Selbstverständnis der jungen Generation, mehrsprachig zu sein.

In einem der schönsten Buchläden von Vilnius, der den ungewöhnlichen Namen Mint Vinetu trägt und wie einige andere Buchgeschäfte auch zugleich Café ist, stehen Bücher in allen großen euro­päischen Sprachen. Dass die Litauer häufig nicht erst auf Übersetzungen warten, macht es für die heimischen Verlage jedoch nicht gerade einfacher. Insgesamt gibt es rund 80 Verlage, die mehr als zehn Titel pro Jahr veröffentlichen. Eine dominante Position nimmt der Verlag Alma Littera ein: Seit der Fusion mit dem Verlag Šviesa bestimmt das Unternehmen, zu dem außerdem die große Buchhandelskette Pegasus gehört, mehr als 50 Prozent des Markts.

Die Krise von 2008 hat manche Verlage in den Bankrott getrieben, aber vor allem Buchhandlungen stehen derzeit unter Druck. Die Leser bevorzugen aus finanziellen Gründen den Besuch der Bibliotheken, was regelmäßig zu langen Wartezeiten bei der Ausleihe einzelner Titel führt (sechs Wochen sind keine Seltenheit). "Die Bibliotheken wurden mithilfe von EU-Geldern wunderbar renoviert, aber es fehlt an Büchern", klagt Aida Dobkevičiūtė. "Das Geld von staatlicher Seite genügt nicht, um die Bibliotheken ausreichend zu unterstützen."

Wie sehr Literatur in Litauen geschätzt wird, das lässt sich während der Buchmesse im Februar beobachten, wenn Besucher aus dem ganzen Land nach Vil­nius strömen, um Bücher preiswerter einkaufen zu können und Autoren zu erleben. Der Schriftsteller Alvydas Šlepikas erzählt, dass er mit seinem Roman "Mein Name ist Maryté" nach der Messe auch abseits der großen Städte unterwegs war und dabei eine beglückende Erfahrung gemacht habe: "Litauen ist immer noch ein Leseland."

Litauens Lesebühnen

Rund litauische 100 Autoren und Künstler werden die Leipziger Bühnen bespielen. Ausgewählte Literaturtermine.

Quo vadis, Europa?
Literatur im politischen Raum: Der litauische Außenminister Linas Linkevičius diskutiert mit dem Politiker Hans-Gert Pöttering und dem Stifter Wolfgang Freiherr von Stetten über die Rolle Litauens in Europa.

Donnerstag, 23. März, 12 Uhr,
Forum OstSüdOst, Halle 4, E 505

Detailverliebte Bilder
Der bekannteste Illustrator Litauens, Kęstutis Kasparavičius, präsentiert sein "Schlaraffenland".  
 
Donnerstag, 23. März, 12 Uhr,
Lesebude 1, Halle 2, G 317

Nächte voller Literatur
Gleich zwei Abende präsentieren Vielfalt: Am Donnerstag geht es um Erzählungen, begleitet von Musik; am Samstag liest neben neun weiteren Lyrikautoren Eugenijus Ališanka. Jan Wagner moderiert den Lyrik-Abend.

Donnerstag, 23. März und Samstag, 25 März,
jeweils 20 Uhr, Schauspiel (Baustelle)

Showtime ohne Wasserglas
Keine Lesung, sondern eher eine Show ist im Schauspielhaus zu sehen ("alles außer Wasserglas", verspricht das Programmheft). Ein Read-O-Rama mit sieben Autoren, darunter das "Enfant terrible" der litauischen Literatur, Sigitas Parulskis.

Freitag, 24. März, 19 Uhr
Schauspielhaus (Baustelle), Leipzig

Geschichte und Identität
Ostpreußische Flüchtlingskinder, sogenannte "Wolfskinder", versuchten nach dem zweiten Weltkrieg in Litauen zu überleben. Über ihre Wege und sein Buch darüber spricht Alvydas Šlepikas.

Samstag, 25. März, 14 Uhr,
Forum OstSüdOst, Halle 4, E 505