IPA-Grundsatzrede von Jennifer Clement

Wörter sind keine Verbrechen

19. Februar 2018
von Börsenblatt
Auf dem IPA-Kongress vor einer Woche hielt die Präsidentin des PEN International, die mexikanische Schriftstellerin Jennifer Clement, eine vielbeachtete Rede über die Meinungsfreiheit, über Kampagnen für inhaftierte Autoren und über die Gleichberechtigung von Frauen.

Boersenblatt.net dokumentiert die Rede Jennifer Clements in voller Länge:

"Guten Tag.  Es ist eine Ehre, in Indien an einem Ort voller Verleger zu sein – schließlich blickt dieses Land zurück auf eine große literarische Tradition, welche die Menschheit um richtungsweisende wissenschaftliche Erkenntnisse bereichert hat.

Ich bin die Präsidentin von PEN International, einer Organisation, die seit ihrer Gründung im Jahre 1921 die Freundschaft, intellektuelle Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Schriftstellern aus aller Welt fördert. Einer unserer zentralen Werte besteht ebenso seit unserer Gründung darin, dass die Literatur einen immensen Beitrag zur Schaffung gegenseitigen Verständnisses und zur Kultur unserer Welt leisten kann. Ebenso steht PEN für die Meinungsfreiheit und fungiert als starker Fürsprecher für Schriftsteller, die aufgrund ihrer literarischen Arbeit schikaniert, eingesperrt oder gar ermordet werden. Seit nahezu einhundert Jahren geben unsere Mitglieder auf der ganzen Welt denjenigen eine Stimme, die zum Schweigen gebracht wurden.

Im Jahre 1933 führte PEN die Proteste gegen die Bücherverbrennungen der Nazis in ganz Deutschland an, als tausende Bücher, die als „entartet“ deklariert worden waren, in Flammen aufgingen. PEN appellierte damals gegen Verhaftungen aus religiösen oder politischen Gründen. Die Charta von PEN wurde als unmittelbare Reaktion auf diese Ereignisse verfasst; um all unsere Mitglieder daran zu erinnern, dass jeder von uns die persönliche Verantwortung trägt, sich Hass, Diskriminierung, Unrecht und Zensur regierungskritischer Stimmen  entgegenzustellen.

PEN ist die älteste und größte internationale literarische Organisation. Es bestehen über 140 unabhängige PEN-Zentren in mehr als 100 Ländern. Obwohl PEN ursprünglich für „poets, essayists, novelists“ – also „Lyriker, Essayisten und Romanciers“ – stand, hat sich unser Verständnis des Begriffes „Schriftsteller“ weiterentwickelt, sodass zu unseren Mitgliedern heute auch Dramatiker, Verleger, Übersetzer, wissenschaftliche Autoren und Journalisten zählen.

Nachdem wir uns nun bereits seit fast 100 Jahren für die Verteidigung der Meinungsfreiheit eingesetzt haben, ist es uns ein besonders wichtiges Anliegen, die Menschen zu ehren, die trotz konkreter Gefahren weiterhin schreiben und sich gegen Unterdrückung aussprechen. Jedes Jahr verleiht PEN in Den Haag den Oxfam-Novib/PEN Preis für freie Meinungsäußerung, um das Werk ebendieser Personen anzuerkennen und zu feiern. Dieser Preis honoriert nicht nur individuellen Mut, sondern bietet in manchen Fällen seinen Trägern auch eine Art Schutzschild, fast als wenn diese Form von Anerkennung einen Zufluchtsort schüfe.

Es funktioniert nicht immer. Manchmal ist die Situation komplexer. Kurz nachdem der große chinesische Lyriker Liu Xioabo im Jahre 2010 noch während seiner Haft mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, wurde seine Frau, die Lyrikerin Liu Xia, ohne eines Verbrechens angeklagt zu sein, unter Arrest gestellt. Letztes Jahr wurde Liu Xiaobo nach acht Jahren hinter Gittern freigelassen und starb zwei Tage später im Krankenhaus.

Ich werde niemals das Bild aus dem Jahre 2010 vergessen, welches den Vorstand des norwegischen Nobelpreiskomitees, Thorbjørn Jagland zeigt, der neben dem leeren Stuhl mit Liu Xiaobos Medaille und der Urkunde sitzt. Vielleicht wissen Sie, dass der leere Stuhl bei PEN eine besondere Bedeutung hat: Dieses Symbol nutzen wir bei all unseren Treffen, um an die Schriftsteller zu erinnern, die nicht vor Ort sein können, da sie inhaftiert oder verschwunden sind oder gar ermordet wurden.

Xiaobo sagte einmal, er hoffe, er sei „das letzte Opfer in Chinas langer Tradition, Wörter als Verbrechen zu behandeln“. Während ich hier den Namen dieses großen chinesischen Lyrikers ausspreche, möchte ich meiner Freude über die Tatsache Ausdruck geben, dass der Prix Voltaire der IPA dieses Jahr an Gui Minhai verliehen wurde. PEN hat sich unermüdlich für Gui Minhai und andere Verleger, die in China gegen jeden Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entführt oder eingesperrt wurden, stark gemacht. Wir freuen uns, uns Hand in Hand mit der IPA für die Freiheit der Meinungsäußerung zu engagieren, ganz gleich, wo diese bedroht ist: Von China bis Eritrea, von Honduras bis zu den Vereinigten Staaten.

Als ich das erste Mal den Oxfam Novib/PEN Preis für freie Meinungsäußerung verleihen durfte, ging er an die folgenden Personen: Den ägyptischen Lyriker Omar Hazek, der 18 Monate dafür inhaftiert war, in friedlichem Protest Gerechtigkeit für einen von den Sicherheitskräften getöteten Mann gefordert zu haben; den eritreischen Lyriker, Journalisten und Chefredakteur Amanuel Asrat, dessen Schicksal seit seiner Verhaftung vor 16 Jahren weiterhin ungeklärt ist; den türkischen Journalisten Can Dündar, Mitglied des türkischen PEN, der sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft befand. Nicht einer der Preisträger konnte an der Zeremonie teilnehmen. Dündar war im Haft; Asrat ist bereits seit 1991 in Haft und sitzt auch heute noch im Gefängnis, wobei sein Schicksal ungeklärt ist; Hazek versuchte zwar, zur Preisverleihung in die Niederlande zu reisen, durfte aber Ägypten nicht verlassen. Damals wurden die Preise ein Symbol individuellen Mutes.

Um meine heutige Rede zu halten, schrieb ich den kurdisch-türkischen Schriftsteller und Anwalt Burhan Sönmez an, Mitglied des Vorstands von PEN, und fragte, inwiefern derartige Auszeichnungen die Behandlung von in der Türkei inhaftierten Schriftstellern beeinflussen. Er antwortete: „Es ist schwer, diese Frage zu beurteilen. Mein persönliches Gefühl ist, dass ein Preis unter dem Regime Erdogans für Schriftsteller kein besonders starker Schutzschild ist. Der türkisch-deutsche Journalist Deniz Yücel [inzwischen auf freiem Fuß; Anm. d. Red.] ist seit einem Jahr im Gefängnis, und Ahmet Şik hat viele Preise erhalten, trotzdem wurde er seit letztem Jahr nicht freigelassen. Aber,“ führte Sönmez in seinem Brief an mich fort, „gleichermaßen sollten wir davon ausgehen, dass es doch etwas nützt. Beispielsweise wurden Necmiye Alpay und Aslı Erdogan nach ihrer ersten gerichtlichen Anhörung dank der starken internationalen Solidarität inklusive Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften in PEN Zentren freigelassen... wenn ich nicht letztes Jahr den Vaclav Havel Preis erhalten hätte, vielleicht wäre ich dann auch bei einer willkürlichen Massenfestnahme abgeholt worden. Wer weiß?“

Viele inhaftierte Schriftsteller haben berichtet, dass sich Kampagnen für ihre Freilassung, inklusive von Preisen und Briefen, durchaus positiv auf ihre Haftbedingungen auswirken können. Verleger spielen ebenfalls eine zentrale Rolle in der Förderung und in der Verteidigung der freien Meinungsäußerung. Im Jahre 2001 schuf PEN den Publishers Circle, bestehend aus Verlegern, die die Arbeit von PEN unterstützen wollen. Im Jahre 2013 unterstützte unser Publishers Circle die Veröffentlichung der Anthologie Write Against Impunity als Protest gegen die in Südamerika vorherrschende Kultur der Straflosigkeit bei Delikten gegen Schriftsteller. Im Juli 2013 stellten Mitglieder des Publishers Circle einen Teil unserer Delegation, die mit dem Auftrag nach Myanmar reiste, die Situation der dortigen Verlagsbranche zu untersuchen, um Wege zu finden, wie PEN einheimische Autoren und Verleger besser unterstützen kann und Workshops mit Verlagshäusern vor Ort abzuhalten, um aktiv Wissen zu vermitteln.

In jüngster Vergangenheit, im Januar letzten Jahres, nahmen mehrere Mitglieder unseres Publishers Circle, darunter Eva Bonnier, Ronald Blunden und William Nygaard, an einer PEN-Mission in die Türkei statt, um ihre Solidarität mit den Verlegern zu bekunden, die sich dort bislang nicht gekannten Repressalien ausgesetzt sahen. Heute haben wir 24 Mitglieder aus der ganzen Welt in unserem Publishers Circle. Bei PEN sind wir überzeugt, dass Verleger eine besondere und starke Position in der Verteidigung der freien Meinungsäußerung einnehmen. In diesem Sinne möchte ich an die IPA und jeden in diesem Raum appellieren, eine aktive Rolle im Kampf für die freie Meinungsäußerung in China und der ganzen Welt zu spielen. Wir leben in einer Zeit, in der dieses fundamentale Menschenrecht ernsthaft bedroht ist.

Da sich einige der Diskussionen auf diesem Kongress um das Thema Urheberrecht drehen, möchte ich bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass PEN bei unserem Kongress in Ourense im Jahre 2016 einstimmig ein Manifest zum Thema Urheberrecht verabschiedet hat. Als älteste und größte Organisation für Schriftsteller war es uns ein Anliegen, eine starke Haltung zum Urheberrecht zu zeigen; unser Manifest eignet sich zur Verwendung vor Gericht sowie gegenüber der Politik.

Ich bin die erste weibliche Präsidentin an der Spitze von PEN International. Daher gehört es zu meinen besonderen Anliegen, Autorinnen zu unterstützen und zu untersuchen, wie Gewalt gegen Frauen als Mittel der Zensur eingesetzt wird. Der gemeinsame Nenner der schier unermesslichen Vielfalt von Gewaltformen, denen sich Frauen ausgesetzt sehen – von geschlechtsspezifischen Abtreibungen über gekidnappte Mädchen, die verkauft und verschleppt werden, bis hin zu weiblichen Studentinnen an Universitäten, die in den sozialen Medien bewertet und für vermeintlich freizügiges sexuelles Verhalten an den Pranger gestellt werden – ist, dass diese Gewalt Frauen zum Schweigen bringt.

Das historische Defizit von Freiheit für Frauen und Mädchen wurde in der Vergangenheit und wird auch heute immer wieder unter Bezugnahme auf Kultur, Religion und Tradition gerechtfertigt. Dies zeigt deutlich, dass kaum eine Gruppe größere Beschneidungen ihrer Menschenrechte im Namen der Kultur ertragen muss als Frauen.

Es ist das beeindruckende Erbe von Schriftstellerinnen und Journalistinnen, das uns bei PEN immer wieder antreibt, die Steine, die weiblichen Schriftstellern immer noch in den Weg gelegt werden, weiter zu bekämpfen -  gleichgültig, ob sich dies als Zensur in Form körperlicher oder emotionaler Gewalt manifestiert, als Gesellschaft, in der Frauen stereotypisiert und marginalisiert werden oder als eine Verlagswelt, in der Frauen immer noch weniger verdienen, weniger veröffentlichen und weniger von der Kritik beachtet werden als ihre männlichen Kollegen.

Aus diesem Grund hat PEN ein Manifest für Frauen entworfen, das sich für Gewaltfreiheit, Sicherheit, Bildung, Zugang und Gleichberechtigung einsetzt. Auch in den Ländern, von denen wir glauben, dass die Gleichberechtigung verwirklicht ist, ist dem schlichtweg nicht so. Die Autorin und Journalistin Kamila Schamsie, die als Beraterin an unserem Manifest mitarbeitete, fand heraus, dass die Protagonisten der Bücher aller Frauen, die den Booker oder Pulitzer Preis gewonnen hatten, ohne Ausnahme männlich waren. Fast jeder Autorin ist bewusst, dass sie keinen Preis gewinnen wird, wenn sie über Frauen schreibt – bewusst und unbewusst wird die weibliche Erfahrung immer noch als weniger tiefgründig wahrgenommen. Carolina Criado Perez, ebenfalls Beraterin für PENs Manifest für Frauen, rief eine Kampagne ins Leben: Eine Frau, die nicht die Queen ist, sollte auf einer britischen Banknote abgebildet werden. Criado Perez wurde daraufhin dermaßen diffamiert, dass sie ihre Accounts in den sozialen Medien abschalten musste, da sie massenweise Hass-Mails erhielt, in denen häufig Drohungen mit Mord oder Vergewaltigung geäußert wurden. Ihr haben wir es zu verdanken, dass heute Jane Austens Konterfei auf der 10 Pfund-Note zu sehen ist.

Vida, eine Organisation in den USA, die nachverfolgt, wie die Bücher von Frauen von der Literaturkritik beachtet werden (denn darin liegt der Weg zu Sichtbarkeit, Prestige und Auszeichnungen), hat schwere Missstände aufgedeckt, z.B. dass weibliche Autorinnen, wenn sie denn rezensiert werden, vor allem von anderen Frauen rezensiert werden und dass ihre Arbeit fast ausschließlich mit der von anderen Frauen verglichen wird. Die Lyrikerin Grace Schulman, eine Expertin für Marianne Moore, die modernistische Dichterin, erzählte mir vor Kurzem, dass Moore, die 1972 starb, immer mit Emily Dickinson verglichen wird, die 1886 starb – also 100 Jahre zuvor – statt mit ihren männlichen Zeitgenossen!

Es handelt sich um ein globales Problem, das auch hier andauert. Wenn wir über Frauen sprechen und da wir in Indien sind, sollten wir das mutige Leben der indischen Journalistin und Redakteurin Guari Lankesh ehren, die am 5. September 2017 ermordet wurde. Sie bekämpfte Ungerechtigkeit mit Worten. Ihre Mörder hatten Kugeln.
Ebenso sollten wir den ökonomischen Jahresbericht der indischen Regierung beachten, der am 30. Januar, also vor knapp zwei Wochen, veröffentlicht wurde. Dieser führt an, dass mehr als 63 Millionen Frauen in Indien „fehlen“ sowie, dass mehr als 21 Millionen von ihren Familien ungewollt sind. „Die auf Geschlechtszugehörigkeit basierenden Herausforderungen haben eine lange Tradition und währen wahrscheinlich bereits Jahrtausende“, schreibt der Autor des Berichts, Hauptwirtschaftsberater Arvind Subramanian und merkt an, dass Indien seine „gesellschaftliche Bevorzugung von Jungen konfrontieren“ müsse.  

Es bereitet mir tiefsten Kummer, dass die Stimmen und Geschichten - die Leben - dieser Mädchen verloren sind. PENs Manifest für Frauen spricht diese Trauer an und endet mit den Worten: „Wenn Frauen ihre Kreativität und ihr Wissen nicht in vollem Umfang und frei zum Ausdruck bringen können, fehlt der Menschheit etwas Wichtiges, das ihr dadurch genommen wird“.

Vielen Dank."