Kommentar

Internetzensur: Offenheit als Prinzip

17. November 2010
von Börsenblatt
Wird der Gedanke des offenen Netzes ausgehöhlt? Ein Kommentar von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.
Die westliche Welt rühmt sich immer einer offenen Gesellschaft, die Meinungsunterschiede und -extreme aushält. Und wenn ein Internetgigant wie Google dem chinesischen Imperium die Stirn bietet und sich zensorischen Maßnahmen widersetzt, dann feiern die Anhänger der Freiheit und des offenen Netzes dies als Sieg. Doch geht es um bestimmte Reizthemen – zum Beispiel das unappetitliche Thema Pädophilie –, befällt auch die Parteigänger der unbeschränkten Meinungsfreiheit eine scheinbar unerklärliche Schwäche. Und so kommt es, dass ein Online-Händler wie Amazon, der Autoren die Selbstpublikation ermöglicht und daran gut verdient, einen Ratgeber für Pädophile von seiner Website entfernt, weil er binnen Kurzem in der Bestseller-Rubrik auftauchte. Der Vorgang an sich ist nicht zu beanstanden, weil Amazon seiner Self-Publishing-Website Regeln vorgegeben hat, die anstößige Inhalte nicht gestatten. Insofern hat Amazon mit der Entfernung des Titels nur seine Sorgfaltspflicht walten lassen.

Aber ist die Sache wirklich so einfach? Können künftig alle Shop-Betreiber einen ähnlichen Kodex einführen, auch für reguläre Verlagstitel? Ist nicht Apple mit seiner rigiden App-Prüfung über das Ziel hinausgeschossen? Etabliert sich so nicht auf schleichende Weise ein Regime zensur­ähnlicher Interventionen, das den Gedanken des offenen Netzes aushöhlt? Das Netz ist heute Teil der offenen Gesellschaft. Und wenn wir es vor unangenehmen, aber nicht rechtswidrigen Themen verschließen, verraten wir eine gute Idee.