Marktforscher Robert Kecskes zum Käuferschwund

"Der Konkurrenzkampf wird stärker, nicht schwächer"

6. Juni 2018
von Börsenblatt
Der Buchmarkt verliert Käufer, kann aber auch neue gewinnen – vielleicht: Robert Kecskes, Marktforscher bei der GfK, über die Wünsche junger Zielgruppen und warum Bücher aus seiner Sicht "nur ganz kleine Sandkörner in einer riesigen Ablenkungswüste" sind.

Die Zahl der Buchkäufer sinkt auf 29,6 Millionen, so das Fazit der neuen GfK-Käuferstudie für den Börsenverein. Über welche Zielgruppen muss sich die Branche besonders Gedanken machen? 
Vor allem über die, die nachwachsen – bei den älteren Zielgruppen ließe sich eventuell noch manches intensivieren, ganz neue Konzepte einzuführen, dürfte aber schwierig werden. Außerdem gibt es hier keine Wachstumspotenziale mehr. 

Aber bei den jüngeren? 
Man sollte es auf jeden Fall versuchen. Die Jungen, wir bezeichnen sie als iBrains, sind heute bis 19 Jahre alt. Es ist die erste Generation, die mit dem Smartphone im wahrsten Sinne des Wortes groß geworden ist. Aber auch das klassische Buch hatte bei ihnen in der Sozialisation einen hohen Stellenwert. "Harry Potter", "Der Herr der Ringe", "Der kleine Hobbit", aber auch "Warrior Cats" und "Chroniken der Unterwelt" sind hierfür nur einige Beispiele. Wichtig wird es jedoch auch sein, sich Konzepte für die sogenannten Millennials zu überlegen – die ältesten in dieser Gruppe sind heute fast 40. Für sie ist typisch, dass sie früher mal viel gelesen haben, aufgrund von Beruf und Familie dies jedoch immer seltener tun.

Wozu raten Sie? 
Als erstes vielleicht dazu, sich stärker mit den Zielgruppen und den Veränderungen in der Gesellschaft zu beschäftigen – den Folgen dessen, was wir fluide Moderne nennen.

Was meinen Sie damit?
Das Leben wird "flüssiger", weil die festen Ankerpunkte in der Lebens­perspektive verloren gehen. Subjektiv empfinden es viele, vor allem jüngere Menschen so: Soziale Bezugsgruppen differenzieren sich immer stärker aus, die Dinge um einen herum verändern sich schnell, es gibt keine klare Orientierung mehr und auch kein klares Wertesys­tem. Dafür fließt vieles ineinander. Das ist einerseits toll, da sich der eigene Horizont erweitert, macht das Leben aber auch anstrengender und vor allem kommen identitätsstiftende Zugehörigkeiten und Abgrenzungen abhanden. 

Wie zeigt sich das?
Zum Beispiel darin, dass gerade den jüngeren Zielgruppen vieles nicht mehr selbst steuerbar erscheint. Sie fühlen sich gefangen in einer Art Raster, bekommen dazu in der Arbeitswelt ständig zu hören, sie müssten permanent kreativ und erfolgreich sein. So bekommt man das Gefühl, getrieben zu sein. Das alles kann extrem belasten.

Welche Rolle spielen Bücher in diesem Kontext?
Geschichten zu lesen, setzt der subjektiv wahrgenommenen Enge etwas entgegen. Geschichten entlasten und helfen dabei, mit den Anforderungen des Alltags klarzukommen, sich ihnen gewachsen zu fühlen. Wenn die Buchindustrie vermitteln kann, dass mich das Lesen fit macht für diese hochdigitale, beschleunigte Welt, weil ich hier die Kompetenz erlange, mich mal zurückzulehnen, zu reflektieren, zu träumen, zu fantasieren – dann haben Bücher durchaus Chancen, für jüngere Generationen attraktiv zu bleiben. Wobei ich mit "fit machen für die beschleunigte Welt" nicht ein Funktionieren meine, sondern die Befähigung, seinem Leben einen Rhythmus zu geben.

Gedruckt oder digital - oder beides? 
Es wird darum gehen, Zugänge zu schaffen, dem Bedürfnis nach Kontemplation zu entsprechen, einen Ausgleich der Balkenwaage von vita activa und vita contemplativa zu erlangen. Deshalb würde ich zumindest für den Bereich der Belletristik sagen: Gedruckt geht vor digital, weil Haptik einfach sehr wichtig ist, um die Gelegenheiten für Ablenkungen zu reduzieren. Entscheidender ist für die Buchbranche aber wahrscheinlich ohnehin etwas anders – bei den jungen Zielgruppen verliert Besitz an Bedeutung, dafür steigt zum Beispiel ihr Interesse an Tauschbörsen. In Anlehnung an Tonträger der Musik lässt es sich vielleicht so formulieren: der Lebensstil hat sich gewandelt, vom Konzeptalbum zur Playlist, die eben immer wieder neu zusammengestellt werden kann. Ich nenne es pointillistische Lebensperspektive.

Literaturevents haben derzeit großen Zulauf. Wie passt das zum Bedürfnis nach Ruhe?
Ruhe ist nur ein Aspekt, zusammenkommen ein anderer. Im Rahmen unserer Untersuchungen haben wir festgestellt, das sich besonders die jungen Zielgruppen oft allein fühlen und sich wünschen, wieder mehr mit der Familie und Freunden zu unternehmen; physisch, analog, nicht virtuell. Die Band Placebo hat dies übrigens in ihrem Song „Too Many Friends“ schon 2013 sehr schön ausgedrückt. Der Erfolg von Literaturevents dürften ein Ausdruck dieses Bedürfnis nach physischen Kontakten sein – sie betonen das Gemeinsame, ermöglichen Begegnungen. Da entsteht ein Schub, der als sehr positiv empfunden wird. Und sie zeigen, welche Anziehungskraft Literatur noch immer hat. 

Ihr Vorschlag, um zu zeigen, dass das Bücherlesen kreativ und fit für den Alltag macht?
Man sollte das Thema sicher nicht zu instrumentell und plakativ spielen, sonst ist das Buch nur ein Mittel zu einem bestimmten Zweck, dem funktionieren – und das wäre kontraproduktiv. Und es würde der Branche sicher guttun, ein bisschen von ihrem hohen, intellektuellen Ross runterzukommen. Jeder sollte respektiert werden, auch wenn sie oder er nur wenige Bücher im Regal hat. Vielleicht fehlte ihm oder ihr bisher ja bloß der richtige Zugang zum Lesen. Natürlich ist nichts gegen Intellektualität einzuwenden, aber auch Menschen, die heute noch oder heute erst recht wenig mit der Lektüre von Büchern anfangen können, haben Bedürfnisse, die auch durch das Lesen befriedigt werden können. Nur müssen diese Bedürfnisse ernst genommen und dürfen nicht als abqualifiziert werden. Der Mensch, unabhängig von seiner formalen Bildung und seinem Wissen, möchte Autor seiner selbst bleiben. Das Lesen kann ihn auf vielfältige Weise dabei helfen. Es geht um die Wiederentdeckung des Narrativen, ob hochkulturell oder in Form von Groschenromanen.

Mangelt es Verlagen und Buchhandlungen an Empathie?
Das glaube ich nicht – trotzdem ist das natürlich ein interessanter Punkt. Empathie wird wichtiger, weil die Menschen spüren, dass sie verlorengeht. Und das umso mehr, je stärker Algorithmen die Prozesse steuern. Algorithmen sind nicht empathisch. Darin liegt eine Chance für den Buchmarkt, Buchhandlungen und Verlage sind schon lange darin geschult, Gefühle anzusprechen. 

Ließe sich auf diesem Weg die Situation vielleicht auch wieder drehen? Kehren die Buchkäufer zurück? 
Da die Konkurrenz zu anderen Medien eher noch größer wird und Besitz an Relevanz verliert: nein. Der Konkurrenzkampf wird stärker, nicht schwächer. Heute hat man die Welt in der Tasche, im Smartphone, oder im Tablet und die Bücher, die ich dort finde, sind nur ganz kleine Sandkörner in einer riesigen Ablenkungswüste. So viele Ablenkungsmöglichkeiten in einer kleinen oder auch großen Hand gab es in der vordigitalen Welt nicht. Und es werden sicher noch mehr. Damit muss man sich abfinden. 

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Robert Kecskes ist Global Insights Director bei der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK).