SZ Wirtschaftsgipfel 2016 | Teil 2

Disruption im Einzelhandel

19. November 2016
von Börsenblatt
Disruptive Prozesse im Einzelhandel, die auch den Buchhandel betreffen könnten, und die wirtschaftlichen Probleme und Perspektiven Europas standen u.a. auf der Agenda des Wirtschaftsgipfels 2016 der Süddeutschen Zeitung. Wolfgang Schäuble bekam für ein emotionales Statement großen Beifall.

»Droht der Handel an der Digitalisierung zu scheitern?« lautete die provokative Fragestellung bei einem der insgesamt drei Frühstücks-Panels am zweiten Kongresstag. Auf dem Podium saßen mit Richard Alan Herz (ab 2017 CIO von kfzteile24.de), Dirk Hörig (Mitbegründer von commercetools) und Rolf Tappe (Vaillant Group) drei e-commerce Experten, deren Ziele und Strategien vermutlich  kaum auf unsere Branche übertragbar sind. Dennoch gaben sie ein paar Einschätzungen, die auch für den Buchhandel Relevanz entfalten dürften.

So ist ihrer Meinung nach absehbar, dass die Verdichtung in den Großstädten durch das wachsende Bedürfnis nach Gewerbe- und Wohnraum stark zunehmen wird. Dies wiederum hat zur Folge, dass mit einer weiteren Steigerung der Gewerbemieten zu rechnen ist, die für den Handel problematisch werden könnte. Handelsunternehmen und Einzelhändler werden darauf mit einer weiteren Reduktion der Verkaufsflächen antworten müssen. Dies wird auch zu einer verstärkten Kundensuche im Netz führen. In diesem wachsenden Konkurrenzumfeld kann nur ein extrem serviceorientierter Handel überleben, der sich präzise an den Bedürfnissen seiner Kunden orientiert.

Ein Handel ohne ausgeprägten Service wird keine große Zukunft haben, höchstens in »exotischen Nischen«. So wird beispielsweise die Lieferung gekaufter oder bestellter Waren zum Kunden ein unverzichtbarer Service des Einzelhandels werden müssen, weil sich die Kundenbedürfnisse weitgehend darauf einstellen werden. Immer mehr Kunden werden dazu übergehen, (nicht nur) Waren des täglichen Bedarfs online einzukaufen, denn hier kann bei vielen Produkten vom vielbeschworenen »Einkaufserlebnis« kaum eine Rede sein. Und die Kunden werden merken, dass sie die dadurch gewonnene Zeit anderweitig viel sinnvoller nutzen können. Mehr Zeit mit ihren Familien und Freunden verbringen zu können, mehr Zeit für Kultur, für sportliche oder sonstige Aktivitäten zu haben – dieser persönliche Vorteil der Kunden wird viele Branchen des Einzelhandels zu einer Fokussierung auf das Online-Geschäft zwingen. Bei vielen Einzelhändlern wird sich deshalb der Online-Handel zum zentralen Verkaufskanal entwickeln, der stationäre Verkauf zum Zusatznutzen und zur Kundenbindungsmaßnahme. Beim stationären Handel wird es nicht mehr nur darum gehen, Läden mit Waren zuzustellen, sondern Erlebniswelten zu inszenieren, Einkaufsatmosphären zu schaffen, in denen die Kunden sich wohl fühlen.

Europäische Perspektiven

Nach dem fulminanten Eröffnungsvortrag des Wirtschaftsgipfels durch den Premierminister der Französischen Republik Manuel Valls, der eindringlich und vielzitiert vor einem Zerbrechen Europas gewarnt hat, war das Ergebnis einer Saalumfrage unter den fast 600 TeilnehmerInnen des Kongresses im Hotel Adlon hochinteressant. Bei zwölf vorgegebenen Antwortmöglichkeiten auf die Frage »Was sind derzeit die drei größten Unsicherheitsfaktoren für die Wirtschaft?« entschieden sich 50% für »Europa zerbricht«, 40% für »Donald Trump« und 32%  für »Protektionismus«. Die wenigsten Prozentpunkte erreichten die Themen »Energiepreise« (1%), Künstliche Intelligenz (9%) und »Flüchtlingskrise« (11%). Ich finde es schon ermutigend, dass man in den oberen Etagen der deutschen Wirtschaft die vielbeschworene »Flüchtlingskrise« als so unproblematisch für den Wirtschaftsstandort Deutschland einschätzt.

Auf die in mehreren Gesprächsrunden gestellte Frage »Was muss die EU in Bezug auf den digitalen Binnenmarkt dringend auf den Weg bringen?« antworteten die Gesprächspartner den Moderatoren u.a. mit dem Wunsch nach einer europäischen Harmonisierung gesetzlicher Regelungen, einer Stärkung der Richtlinien-Kompetenz der EU, notfalls mit einem neuen europäischen Vertrag. Gerade nach dem Brexit, so wurde mehrfach von auswärtigen Gästen geäußert, sollte hierbei Deutschland die Federführung übernehmen. Neben einer Vereinfachung von Genehmigungsverfahren wurde auch der Ruf nach einer Lockerung und Vereinheitlichung der europäischen Datenschutzrichtlinien laut. Weitere Themen waren der Abbau der Roaming-Tarife und die Rolle des Staates als »Einkäufer«, der als solcher nicht nur Großunternehmen beauftragen, sondern Aufträge verstärkt auch an kleine und mittlere Unternehmen vergeben sollte.

Wolfgang Schäuble weicht aus und mahnt

Mit Spannung erwartet wurde das »Kreuzverhör«, in das Kurt Kister (Chefredakteuer der SZ) und Cerstin Gammelin (Parlamentsredaktion Berlin) Wolfgang Schäuble nahmen. Der Bundesfinanzminister antwortete auf die kritischen Fragen leider allzu routiniert und wortreich weitgehend mit Belanglosigkeiten. Erst als es am Ende des Gespräches auf das Thema Populismus und den Stil des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes kam,und damit zu der Frage, ob er ähnliche Entgleisungen bei der Wahl zum Deutschen Bundestag 2017 erwarte, ließ sich Wolfgang Schäuble zu einem emotionalen Schluss-Statement hinreißen: »Ich möchte nicht einen Wahlkampf dieser Art in Deutschland erleben. Und die, die einen solchen Wahlkampf in Deutschland führen wollen, die sollen nicht 5% kriegen und nicht 1% sondern die sollen überhaupt keine Stimme kriegen. Weil ich finde, das haben wir in der deutschen Geschichte genug gehabt. Das brauchen wir nicht mehr. Wir brauchen nicht Minderheiten zu Sündenböcken zu machen für Probleme, die wir nicht selber lösen. Wer dies anfängt, endet da, wo wir in Deutschland schon mal waren, am Ende.«

Und hier der Link zum ersten Teil des Berichts: http://bit.ly/2gzgu2T