Digitales Lesen in der DNB

Ein grotesker Streit

29. Januar 2017
von Börsenblatt
Seit gut zwei Monaten werden in der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) statt gedruckter vorrangig digitale Bücher bereitgestellt – sofern vorhanden. Dagegen hat Feuilleton-Redakteur Thomas Thiel in der FAZ saftig polemisiert. Auf der future!publish trafen die Kontrahenten aufeinander.

Was genau ist geschehen? Am 7. November 2016 hat die DNB ihre Benutzungsordnung wie folgt geändert: »Ist die Ausgabe eines Werkes sowohl elektronisch (digital) als auch gedruckt vorhanden, wird aus Bestandsschutzgründen vorrangig die digitale Ausgabe … bereitgestellt. Bereitstellungsfristen entfallen.« Dieser Beschluss hat den DNB Power-User Thomas Thiel so erbost, dass er am 30. November in der FAZ eine harsche Polemik veröffentlichte.

»Bibliothekare, die keine Bibliothekare mehr sein wollen«

In einzelnen gibt Thomas Thiel folgendes zu bedenken: Das ökonomische Argument der »Bestandsschutzsicherung« sei schon deshalb kritisch zu hinterfragen, weil »die horrenden Strom- und Infrastrukturkosten elektronischer Medien grundsätzlich ignoriert« würden. So habe das Schweizerische Bundesarchiv in Bern errechnet, dass »die digitale Konservierung eines Meters Archivmaterial neunmal teurer ist als dessen analoge Konservierung.« Weiter sei die Haltbarkeit digitaler Medien unsicher oder jedenfalls sehr aufwändig. Überdies bleiben die Daten auf den Servern der anbietenden Verlage, könnten also von denen jederzeit gelöscht werden oder im Falle einer Insolvenz für immer verschwinden. Es sei auch nicht auszuschließen, dass einzelne Anbieter die Nutzungsdaten der Leser tracken, deren Leseverhalten also ausspionieren. Ferner würde weder die Mehrzahl der Nutzer als offenbar auch die der MitarbeiterInnen der DNB diesen Beschluss mittragen. Und überhaupt sei die intensive Lektüre eines gedruckten Buch nicht zu vergleichen mit dem flüchtigen Wischen im Digitalen. Den »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil könne man sowieso nur in gedruckter Form lesen. Die vorrangig digitale Bereitstellung von Büchern komme einer Selbstaufgabe des traditionellen Selbstverständnisses einer Bibliothek gleich.

Auf der future!publish traf Thomas Thiel nun am vergangenen Freitag in einem Streitgespräch auf Ute Schwens, die stellvertretende Generaldirektorin der DNB – und trug seine Argumente noch einmal mündlich vor.

Was ist die DNB im Kern?

Ute Schwens verwies in ihrer Replik auf die Aufgabenstellung der DNB als Archiv aller in Deutschland veröffentlichten Werke, zu deren kostenloser Bereitstellung alle Verlage und sonstigen Herausgeber gesetzlich verpflichtet sind. Eine Ausleihe dieser Werke ist ausgeschlossen. Die über 30 Millionnen Medieneinheiten können nur in der Bibliothek selbst eingesehen werden. Die durch den notwendigen Neuerwerb ausleihbedingt beschädigter Bücher entstehenden Kosten und die Personalkosten bei der Aushändigung gedruckter Bücher seien nicht unbeträchtlich – die finanziellen Einsparungen durch die Bereitstellung digitaler Werke also beträchtlich. Sie bestätigte ferner die Feststellung einer Zuhörerin, dass die Verlage der DNB ein Original-File zur Verfügung stellen müssen, das auf den Servern der Bibliothek liege, so dass weder ein Tracking der Lesenutzung stattfinde noch im Falle einer Firmeninsolvenz die Daten verloren gingen. Insofern gingen die meisten Argumente von Thomas Thiel ins Leere. Und ob sich das digitale vom analogen Lesen wirklich so stark unterscheide – darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.

Ein grotesker Streit

In einer Zeit, in der sich fast der gesamte globale wissenschaftliche Diskurs digital vollzieht, in der immer mehr Menschen auch belletristische Werke, Sach- und Kinderbücher, Hobby- und Freizeitliteratur digital lesen, mutet der von Thomas Thiel vom Zaun gebrochene Streit über die Bereitstellungspraxis der DNB anachronistisch an. Allerdings kann man auch das inzwischen eingeleitete Zurückrudern der DNB in dieser Frage kaum nachvollziehen. So ist man aufgrund der Proteste von einigen NutzerInnen dazu übergegangen, wieder gedruckte Bücher auszuhändigen. Man muss dazu allerdings die gewünschten Bücher per Mail bestellen. Wozu diese technisch völlig unnötige Hürde zu Lasten der Nutzungsfreundlichkeit?

Hätte die DNB ihren Beschluss im Vorfeld mit den eigenen MitarbeiterInnen, den NutzerInnen und der Öffentlichkeit intensiv und ergebnisoffen diskutiert, es wäre wohl möglich gewesen, den nun Wellen schlagenden überflüssigen Streit zu vermeiden oder wenigstens einzugrenzen.