Erzählen 2.0

Neue Formen des Storytelling

22. Januar 2019
von Börsenblatt
In der Medienbranche wird angesichts der Digitalisierung viel über neue Geschäftsmodelle oder die Bedrohung bestehender diskutiert. Da geht es um digitales Marketing, neue Vertriebskanäle etc. – eher selten aber um die neuen Möglichkeiten für die zugrundeliegende DNA, nämlich das Erzählen von Geschichten. Ein kurzer Blick auf aktuelle Entwicklungen.
Das Kino im Kopf

Durch Virtual Reality ist es erstmals möglich, Lektüre, Bewegtbild, Ton und Interaktion in einem Medium zu vereinen.  Mangels derzeit noch geringer Verbreitung entsprechender Hardware ist VR-Storytelling noch wenig verbreitet und meist experimentell, aber die ersten Projekte zeigen schon einige spannende Möglichkeiten. So befindet man sich in „VRwandlung“ des Goethe Instituts Prag, mit einem tschechischen Startup zusammen entwickelt, in Georg Samsas (genau: Kafkas „Die Verwandlung!) klaustrophobischem Zimmer – als Käfer. Gleich drei Romane, nämlich Dostojewskis „Die Dämonen“, Albert Camus‘ „Der Fall“ und „Homo Faber“ von Max Frisch hat sich eine österreichische Forschergruppe an der Fachhochschule St. Pölten vorgenommen. Ziel: eine Art „Wearable Theater“ – ein tragbares Theater.


WhatsApp: Aufbrechen linearer Strukturen

Digitale Kommunikation ist heutzutage meist Chat-basiert, kurz und bündig und mobil. Warum diese Kanäle, etwa WhatsApp oder den Facebook-Messenger, nicht zum Erzählen von Geschichten nutzen?  Das können kurz angelegte „Häppchen“ sein, Beispiele sind hier der alljährliche Adventskalender des Aufbau-Verlags – aus der Sicht einer Buchfigur, der „Weihnachtsgans Hermine“. Oder Herder bookbakers, die täglich zur Adventszeit Lebensweisheiten von Anselm Grün über WhatsApp verbreiteten.

Kurze Informations“einheiten“ in einem begrenzten Zeitraum veröffentlicht eignen sich auch gut für didaktische Zwecke, etwa um historische Ereignisse darzustellen. Schon vor drei Jahren hatte die Pforzheimer Zeitung die Idee, zum 70. Jahrestag der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg die Geschichte dieser Zerstörung minutengenau nachzuerzählen – per WhatsApp. „Ich, Eisner!“, ein Projekt des Bayerischen Rundfunks, erzählt die Geschichte der Revolution in Bayern von 1918 – in Echtzeit. Über Messenger-Dienste wie WhatsApp, Telegram oder Insta berichtet Kurt Eisner, der Anführer der Revolution und erster Bayerischer Ministerpräsident, sozusagen selbst, live und aus eigener Perspektive, was vor genau 100 Jahren in München passierte. In diesem Magazin findet sich ein Interview mit den Verantwortlichen zu diesem spannenden Projekt.

Interessanterweise halten sich aber ansonsten Sachbuch- und Fachverlage, deren Inhalte für solche Erzählformen eigentlich ideal wären, weitgehend zurück. Hier wird leider viel Potential verschenkt.

Auch im Bereich der Belletristik geht der Weg hin zu „kürzeren Einheiten“. Das meint jedenfalls der bekannte Autor James Patterson und hat für dieses Jahr eine ganze Menge an sogenannten „Bookshots“ angekündigt. Die New York Times dazu: “Mr. Patterson is after an even bigger audience. He wants to sell books to people who have abandoned reading for television, video games, movies and social media. So how do you sell books to somebody who doesn’t normally read? Mr. Patterson’s plan: make them shorter, cheaper, more plot-driven and more widely available.”

“People who have abandoned reading for television, video games, movies and social media” – das ist eine Zielgruppe, die man aktuell auch hierzulande stark im Fokus hat. Vielleicht wären neue, moderne, zeitgemäße Formen des Geschichtenerzählens eine Möglichkeit. James Patterson macht dies mit  seinem neuen Krimi „The Chef“ gleich einmal beispielhaft vor. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive des Ermittlers und des Mörders erzählt – und zwar im Facebook-Messenger: „What you will read is the declassified first hand account of former NOPD detective Caleb Rooney and the evidence he gathered during the days leading up to the event.“

Mediale Formen sind kurze Texte, Videos und Bilder. Selbstredend können die Nutzerleser auch Einfluss auf den Verlauf der Handlung nehmen. Und besonderer Clou – seine Hauptfiguren haben auch noch gleich ein eigenes Instagram-Profil.


Wovon träumen Androiden?

Neben den Erzählformen selbst könnte Technologie auch selbst schöpfend tätig werden – der träumende und auch schreibende Android sozusagen. Oder „Robo-tur“, also Maschinen-Literatur, wie sie Lena Kosakowski in dieser Ausgabe des digital publishing report beschreibt und die eigentlich auf eine lange Tradition zurückblickt. Zumindest in unterstützender Form kennt man dies in Form des „Roboterjournalismus“, inzwischen vielfältig bei vielen Zeitungsverlagen im Einsatz. Hier werden oft datenbasierte Inhalte wie Wetter, Veränderungen am Aktienmarkt, Unternehmensbilanzen oder Sportergebnisse in einer Form aufbereitet die es einem Leser schwer macht, einen Unterschied zwischen Maschine und Journalist zu erkennen.

Die bisherigen Versuche, originär Kreatives aus der Retorte zu schaffen schlugen dagegen meist fehl: „Der Autor George R. R. Martin schreibt derzeit an seinem sechsten Buch der Reihe Game of Thrones, das von der Fangemeinde ungeduldig erwartet wird. Der Programmierer Zack Thoutt trainierte nun eine KI (Recurrent Neural Net) mit den ersten fünf Büchern der Serie und ließ von der KI das sechste Buch schreiben. Das Ergebnis wurde im Sommer 2017 im Internet veröffentlicht. Dabei hat die KI einzelne Charaktere genauso weiterentwickelt, wie das in manchen Fan-Theorien erwartet wurde, ohne dass die KI davon wusste. Mängel gibt es bei der Grammatik, einzelne Charaktere, die bereits verstorben waren, tauchen wieder auf und die Handlungsstränge sind nicht sehr spannend“ (aus: Wikipedia, 18.12.2018). Wer übrigens meint, für solche Projekte seien Kohorten an Mathematikern, Programmierern und Linguisten nötig: „Der Programmierer Zack Thoutt eignete sich die Kenntnisse über den kostenlosen Online-Kurs Udacity an.“

Auch wenn Maschinen-Literatur also den Autoren und Autorinnen aus Fleisch und Blut (noch?) nicht den Rang ablaufen – so konstatiert Lena Kosakowski doch: „Die Ergebnisse der KI-Texte sind zumindest oft sehr unterhaltsam.“ Und mehr kann man von gut erzählten Geschichten eigentlich auch nicht erwarten.