Multi-Channel für alle

Sichtbarkeit – jetzt erst recht!

3. April 2020
von Börsenblatt
"Die Krise ist eine Krise ist eine Krise. Aber sie bringt auch Gutes hervor, das sie überdauern könnte", meint Literaturtest-Geschäftsführer Roland Große Holtforth. Viele Buchhandlungen würden gerade ihre Qualitäten als Multi-Channel-Anbieter entdecken und digitale Eventformate könnten sich als Ergänzung echter, analoger, menschlicher Live-Formate etablieren.  

Wer im Moment öffentlich über die Buchbranche und insbesondere den Handel nachdenkt, tut dies zwangsläufig mit gemischten Gefühlen. Denn einerseits sind unsere Themen wichtig – für uns als Branche ohnehin, aber auch für sehr viele Leser*innen, die gerade jetzt Geschichten erleben oder etwas lernen und wissen möchten. Andererseits wird vermutlich den meisten mindestens einmal am Tag bewusst, dass gerade etwas vor sich geht, das diese Themen mitunter nur noch als, sagen wir, relativ wichtig erscheinen lässt. Im Wissen um diese Ambivalenz wurden auch die folgenden Überlegungen angestellt. Denn wenn hier jetzt von ersten zart hoffnungsvollen Schlüssen aus der Krise die Rede sein soll, sind diese vielleicht positiv – aber eben nicht ungebrochen positiv. So ist es nun einmal gerade.

 

Sichtbarkeit  für Buchhandlungen – Multi-Channel für alle

Mit den Schließungen der allermeisten Buchhandlungen im deutschsprachigen Raum wurden die – zusammen mit den Bibliotheken – wichtigsten Orte des Lesens in der realen Welt dessen beraubt, was sie so anziehend macht: der Qualität eines für alle offenen Raumes, in dem sie jederzeit mit Büchern in Berührung kommen können. Ganz klar: ein herber Schlag für die Sichtbarkeit des Lesens, von den wirtschaftlichen Verlusten der Unternehmen ganz zu schweigen. Aber: Wer dann beobachtet hat, wie entschlossen konstruktiv die meisten Buchhandlungen mit dieser Situation umgehen, darf sich nicht nur leidenschaftlich darüber freuen, sondern auch erkennen: Über jahrelange Kundenkontakte wurde ein Fundament für Sichtbarkeit geschaffen, das auch in der Krise trägt und Umsätze ermöglicht. Viele Kund*innen wissen, wo sie ihre Bücher nicht nur kaufen können, sondern auch kaufen wollen – gerade jetzt.

Und: Es gibt viele gute Ideen, die eigene Sichtbarkeit zu verstärken – auch und gerade im digitalen Raum. Man könnte fast sagen: Viele Buchhandlungen entdecken gerade ihre Qualitäten als Multichannel-Anbieter. Sie erfahren, dass sie die Kombination aus analoger und digitaler Sichtbarkeit nicht nur „irgendwie brauchen“, sondern konkret in Umsätze verwandeln können. Da werden ad hoc Online-Shops durch Inhalte aufgewertet, Newsletter-Frequenzen erhöht oder WhatsApp-Accounts als Bestelltool entdeckt.

Dass z. B. auch ganz einfache Dinge helfen, erfahren wir im Rahmen von #FreundschaftFuersLesen, unserer Pro-bono-Initiative für den Buchhandel: Wer das Kampagnenlogo in der Ladentür, auf seiner Buchhandelswebsite oder in der E-Mail-Signatur einsetzt, kommuniziert: „Gutscheine bei mir zu kaufen, ist gerade jetzt eine fantastische Idee!“ – und profitiert dabei auch von der Aufmerksamkeit, die die Kampagne in Medien wie FAZ, Deutschlandfunk Kultur, WDR oder RBB erzielt hat. Und dass auch Verlage, Börsenverein und MVB ihre Reichweiten für die digitale Sichtbarkeit ihrer Partner im Handel einsetzen, gehört ebenso zu den positiven Momenten der Situation wie die Erfahrung, dass viele Buchhandlungen von ihren Kund*innen im Medium des Gutscheins als „kreditwürdig“ eingestuft werden (schöne Grüße an die eine oder andere sogenannte Hausbank). Wie es Torsten Casimir formulierte: „Wir erfahren in dieser Krisensituation eine hohe Wertschätzung.“ 

­
Sichtbarkeit für Verlage und ihre Autor*innen – auch jetzt!

Diese Wertschätzung bringen Verlage natürlich auch ihren wichtigsten Kreativpartnern entgegen: ihren Autorinnen und Autoren. Hier ergibt sich eine geradezu surreale Situation insbesondere für diejenigen, deren Titel in diesem Frühjahr erschienen sind oder erscheinen. Plötzlich fehlen ihnen die persönlichen Begegnungen mit ihren Leser*innen: Buchpräsentationen oder Festivals wie Leipziger Buchmesse oder lit.cologne müssen entfallen, oft ersatzlos. Zudem haben Medien ihre Aufmerksamkeit zumindest zeitweise stärker auf das eine dominierende Thema verlagert. Mitunter entsteht so für Verlage und Autor*innen eine Lage, die mit der vieler Buchhandlungen vergleichbar ist: Der öffentliche Raum, in dem sonst Sichtbarkeit entsteht, ist einfach kaum oder gar nicht zugänglich. Daraus, dass dieser Zustand quasi über Nacht eingetreten ist, ergibt sich leider: Die Verluste an Umsatz und Aufmerksamkeit für die Frühjahrstitel werden sich bei allem Einsatz und bei aller Kreativität von Verlagen und Autor*innen nicht ausgleichen lassen. Und dennoch …

… lässt sich auch hier, mit Blick auf die „Sichtbarkeit in der Krise“, Positives berichten. Denn zum einen gibt es bei einer ganzen Reihe von Themen durch die Krise einen größeren Bedarf – auch in den Medien. In Zeiten von Home Office und Homeschooling geht dieser nicht nur in Richtung von Lerninhalten, sondern z. B. auch zu Businessthemen („Wirksam führen auf Distanz“). Und wenn sie inhaltlich gut passen, lassen sich jetzt auch eher als sonst Titel platzieren, die nicht brandneu sind – sofern sich die Redaktionen einen aktuellen Mehrwert für ihre Leser*innen davon versprechen. In Presse- und PR-Arbeit gilt also mehr denn je: ganz genau zuhören – und Titel und Autor*innen vielleicht auch anders, mit einem anderen inhaltlichen Ansatz präsentieren, als man dies zu besseren Zeiten getan hätte.

Und selbst in Bezug auf das vielleicht schwierigste Thema, die Absage unzähliger Live-Veranstaltungen mit Autor*innen, lässt sich Positives vermerken. Denn obwohl Klett-Cotta-Verleger Tom Kraushaar natürlich Recht hat, wenn er sagt: „Literatur braucht Gedrängel“, lässt sich zumindest „eine Art Gedrängel“ auch virtuell herzustellen: durch Online-Events. Klar: Das ist etwas anderes. Aber etwas anderes ist aktuell allemal viel, viel besser als: nichts. Und das gilt nicht nur für gerade besonders wichtige Kinderbuch-Initiativen, sondern auch für die vielen Belletristik-Autor*innen, die, anstatt in gut besuchten Literaturhäusern, eben bei Facebook, Instagram oder YouTube lesen. Und es ist eher eine der guten Aussichten, dass solche digitalen Eventformate sich gerade durch diese Krise nicht als bloßer Ersatz, sondern als Ergänzung echter, analoger, menschlicher Live-Formate etablieren könnten – und zusätzliche Sichtbarkeit für Verlage und ihre Autor*innen ermöglichen.

Und es war einer dieser ambivalenten Zufälle, mit denen man im Moment einfach rechnen muss, dass ich heute, vor Beginn der Arbeit an diesem Beitrag, Folgendes im inforadio vom RBB hörte: Um unnötige und gefährliche Aufenthalte in Wartezimmern zu vermeiden, bietet die Berliner Charité jetzt eine Corona-Sprechstunde per Videoschaltung an. Die Charité habe schon länger an diesem Thema gearbeitet. Jetzt, unter dem Druck der aktuellen Krise, gehe die Digitalisierung aber deutlich schneller.