Roundtable zu Meinungsfreiheit

"Heute gerät alles sehr schnell in ein Schwarz-Weiß-Schema"

2. Mai 2024
von Michael Roesler-Graichen

Wie kaum ein Grundrecht ist das Recht auf freie Meinungsäußerung und Publikation Zerreißproben ausgesetzt. Wie weit reicht es, wo stößt es an Grenzen – und weshalb? Ein Roundtable mit Nora Bossong, Torsten Casimir und Oliver Vogel in Berlin, zugleich eine Einstimmung auf die Woche der Meinungsfreiheit, die am 3. Mai beginnt.

Hybride ­Gesprächsrunde bei S. Fischer in Berlin: Oliver Vogel, Nora Bossong, Michael Roesler-Graichen und Torsten Casimir, ­zugeschaltet aus Frankfurt (v. r. n. l.)

Wie steht es heute um die Meinungs­freiheit, in einem Klima aufgeheizter Debatten und einer polarisierten Gesellschaft? Darf man noch alles sagen?

Oliver Vogel: Die Frage scheint mir im Moment nicht zu sein, ob man alles sagen darf, sondern eher: An welcher Stelle wollen wir als Gesellschaft Grenzen setzen? Und das sollte auch gesellschaftlich verhandelt werden. Mich interessiert dabei, ob die Dinge, die gesagt werden, stimmen – oder ob Fake News als Meinungen getarnt werden. Und ob es richtig ist, alles auf wenige Triggerpunkte zu reduzieren und Dinge zu emotionalisieren, die nicht emotionalisiert werden sollten.

Nora Bossong: Ich würde da unterscheiden. In den sozialen Medien und überhaupt im digitalen Raum geht es darum, geleitete Desinformation sichtbar zu machen – politische Einflussnahme von meist nicht demokratischen Akteuren. Dagegen etwas zu tun, heißt nicht, die Meinungsfreiheit zu ­beschneiden, sondern antidemokratisch gesinnte Propaganda nicht zuzulassen. Es ist das gute Recht eines Rechtsstaats, sich selbst auch zu schützen. Ein anderes Feld ist die sensible Sprache. Wenn man daran erinnert, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die des anderen beginnt, und ich den anderen verletze, dann habe ich ein kommunikatives Problem. Da ist Sensibilisieren sinnvoll, da gibt es aber auch eine Tendenz zur Überreglementierung. Gerade in diesem Diskurs verhärten sich die Seiten, wobei mir dies keine Frage der Meinungsfreiheit zu sein scheint, sondern die Frage einer Sprach- oder Begegnungskrise: Dass wir nicht mehr aufeinander zugehen können, dass wir gerade dabei sind, dies zu verlernen. Wir haben es also mit einem tiefer liegenden Problem zu tun, sodass das Ringen darum, wie weit Meinungsfreiheit gehen kann und darf, nur ein Symptom dessen ist, dass wir einander gar nicht mehr verstehen wollen.

Torsten Casimir: Mir fällt auf, dass wir uns gleich zu Beginn unseres Gesprächs sehr stark mit der Frage befassen, wo Grenzen sind. Wo etwas nicht mehr gesagt werden sollte, wo etwas zurückzuweisen ist, weil es nicht tolerierbar sei. Fast vergessen scheint die Zeit, als Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit noch auf eine interessierte Öffentlichkeit trafen. In den 70er Jahren hatte man einen Begriff von Meinungsfreiheit, der sehr weit reichte. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1958 in dem berühmten Lüth-Urteil festgestellt, dass diese besondere Freiheit eines der vornehmsten Grundrechte sei, die wir überhaupt haben. Unsere Freiheit insgesamt, auch unsere freiheitliche Ordnung, ist ohne Meinungsfreiheit gar nicht zu denken. Mein Gefühl, und auch mein Störgefühl im Augenblick ist, dass die Höchstrangigkeit der Meinungsfreiheit als Grundrecht gar nicht mehr so richtig ins Bewusstsein rückt, geschweige denn gefühlt und gelebt wird, weil wir ständig mit Grenzen des Sagbaren und mit Redeverboten, mit Boykottaufrufen, mit Zurückweisungen und Bezichtigungen operieren. Was Meinungsfreiheit für mich ausmacht: aushalten können, zuhören ­können und dann natürlich die Gegenrede formulieren. Das alles weicht gegenwärtig einer Unduldsamkeit, einer Bereitschaft, sich sofort gegenseitig in die Haare zu kriegen und unsere Freiheitsräume einzuengen.

Oliver Vogel

Mich interessiert, ob die Dinge, die gesagt werden, stimmen – oder ob Fake News als Meinungen getarnt werden.

Oliver Vogel, verlegerischer Geschäftsführer von S. Fischer

Herr Vogel, teilen Sie diesen Befund?

Oliver Vogel: Es gibt den Versuch der Beschränkung, aber es gibt auch den Versuch, dagegen etwas zu unternehmen. Wir als Verlag werden die Beschränkungen nicht unterstützen, sondern das Gegenteil machen. Wir publizieren Bücher, wir verstecken sie nicht. Wir publizieren einzelne Stimmen, Autorinnen und Autoren, die immer idiosynkratisch, immer speziell und gleichzeitig immer gefährdet sind. Wir werden etwas dagegen tun, wenn sie angegriffen werden. Das haben wir gerade mit Sharon Dodua Otoo erlebt, die den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum zurückgegeben hat, auf Druck eines rechtspopulistischen Blogs. Speziell nach dieser Erfahrung denke ich, man sollte sich die Rhetorik einer ideologischen Debatte, die ein Gespräch unmöglich machen will, nicht aufzwingen lassen.
 

Frau Bossong, wie geht es Ihnen beim Schreiben? Sind Sie schon mal innerlich zusammengezuckt, als sie einen bestimmten Satz schreiben wollten und gleich darauf zurückgezogen haben?

Nora Bossong: Davon ist das Schreiben nie frei; den imaginären böswilligen Kritiker hat man ohnehin immer hinter sich sitzen. – Ich würde aber gern noch einmal unterstützen, was Torsten Casimir sagt. Wir haben eine Krise des Begegnens: Wir schaffen den Perspektivwechsel nicht mehr, die Fähigkeit, sich in die Position eines anderen hineinzuversetzen, nimmt ab – und das finde ich sehr besorgniserregend. Wenn ich diese intellektuelle, aber auch mit emotionaler Intelligenz gepaarte Fähigkeit verliere, dann habe ich natürlich das Gefühl, jemand geht mit seiner Sprache viel zu weit, wenn er nicht exakt meine Sprache spricht. Das ist der Grund, weshalb sich Leute so über Gendersternchen oder nicht aufregen, anstatt zu sagen: Machʼ es doch, wie du denkst. Das scheint mir das tiefer liegende Problem zu sein, was aber nicht nur mit dem Sagbaren zu tun hat, sondern auch damit, wie wir in der Gesellschaft aufeinander zugehen oder vielmehr aneinander vorbeileben. Die Parzellierung von Gruppen, von Bubbles hat damit stark zu tun.

Torsten Casimir: Sehe ich auch so. Wir entwickeln Begegnungsarten, die ungünstig sind für das Zuhören, für das Einander-verstehen-Wollen, zumindest Nachvollziehenwollen – also für alles, was unser freiheitliches Gemeinwesen einmal ausgemacht hat und idealerweise ausmacht. Das wird durch die neuen Begegnungsarten, die konfrontativ, zuspitzend und sehr schnell sind, unwahrscheinlicher. Ich erinnere an den Vorschlag Omri Boehms bei der Eröffnungsfeier der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus: Man kann kontroverse Meinungen am besten und mit der Chance auf Verständigung austauschen, wenn man grundsätzlich einen freundschaftlichen Raum schafft. Stattdessen schaffen wir Räume, in denen sich zwei schlechte Angewohnheiten verstärken: die Freude am Skandal und die an der Vereinfachung.
 

Nora Bossong

Wir haben eine Krise des Begegnens: Die Fähigkeit, sich in die Position eines anderen hineinzuversetzen, nimmt ab.

Nora Bossong, Schriftstellerin

Haben Diskursunfähigkeit und Diskurs­verweigerung auch damit zu tun, dass die Gesellschaft insgesamt vulnerabler geworden ist?

Torsten Casimir: Wenn man empathisch darauf blickt, kann man sagen, dass besonders verletzliche Menschen eines besonderen Feingefühls im kommunikativen Umgang mit ihnen bedürfen. Behauptete Vulnerabilität kann aber auch etwas Instrumentelles, etwas Taktisches haben. Vulnerable Menschen können den freiheitlichen Anspruch, dass wir alle im Diskurs selbst schwer ­Erträgliches aushalten müssen, mit Hinweis auf ihre Verletzlichkeit zurückweisen. Wenn jede unliebsame Rede oder Meinung einer Verletzung gleichkommt, hat man ein ganz großes Problem.

Oliver Vogel: Ich habe eigentlich eher das Gefühl, es geht auf vielen Feldern der Debatten gar nicht so sensitiv-vulnerabel zu, sondern zunehmend brachial. Der »Schneeflöckchen-­Vorwurf« kommt ja auch oft von der eher deftigen Seite, scheint mir.

Wie geht ein Verleger mit Autor:innen um, die unbequeme Meinungen vertreten? Gibt es da eine rote Linie?

Oliver Vogel: Für Verlage sollte es die Grenze geben, dass wir ideologischem Hass, ­Geschichtsfälschungen, Vereinfachungen und Fake, Antisemitismus und Rassismus keine Plattform geben dürfen. Aber es gibt kaum Möglichkeiten, einen abstrakten Katalog aufzustellen. An dieser roten Linie findet die Auseinandersetzung, für manche auch der Kampf um Definitionen statt. Hier müssen wir zeigen, dass wir in der Buchbranche genau nachfragen, beharrlich bleiben, diskutieren. Wir veröffentlichen als Verlag Autorinnen und Autoren, das, was sie denken und schreiben. Diesen Raum ermöglichen wir, und den sollten wir weit denken. Lesen und Zuhören sollten von kritischem Interesse und Geduld geprägt sein. Das Überschreiten roter Linien ist dann ein Extremfall, und da müssen wir nachfragen, auch widersprechen. Wenn wir das nicht tun, sondern das Gespräch abbrechen, leisten wir der Meinungsfreiheit einen Bärendienst. Denn die extremen Ränder haben die Meinungs­freiheit als Instrument ihrer Ideologien entdeckt. Und eines ist mir auch wichtig: Dass wir den Grundsatz der Freiheit der Kunst nicht aus dem Auge verlieren. Künstler:innen müssen von bestimmten Einschränkungen der Meinungsfreiheit ausgenommen werden. Kunst muss grundsätzlich frei bleiben. Kunst kann politisch sein, aber sie ist etwas grundsätzlich anderes als Politik.
 

Als Autorin erwartet man von einem Verlag, einen »Safe Space« bereitzustellen, in dem man schreiben kann, was man möchte …

Nora Bossong: Sie haben ein sehr ideales Bild von künstlerischer Freiheit. Wir unterliegen ja auch einem gewissen kommerziellen Druck, den man nicht komplett ausklammern kann. Außerdem möchte ich, dass Menschen meine Bücher lesen, ich gehe also einen kommunikativen Pakt ein, der bestimmte Regeln hat. Die kann man unterwandern oder komplett ignorieren, wie etwa der großartige Arno Schmidt in »Zettelʼs Traum«, aber man muss dann auch damit klarkommen, dass die eigene Reichweite sehr gering ist oder man einfach nicht verlegt wird. Dass es jenseits der Debatten links, rechts, woke oder neurechts einen total freien Raum gäbe, halte ich für eine Mär. Das ist die goldene Zeit, die es nie gab. Überspitzt gesagt: Früher das strenge Versmaß, heute die Bestsellerliste als vorgegebenes Ideal.

Oliver Vogel: Es gibt durchaus Autor:innen – und ihre Verlage –, die nutzen, was Sie beschreiben. Man kann das im Sinne der Meinungsfreiheit umdrehen: Je zugespitzter das ist, was man da tut, desto eher hat man ja die Chance, wahrgenommen zu werden. Und Wahrnehmung ist die Währung, um die es dabei geht. Insofern habe ich den Eindruck, dass Meinungsfreiheit nicht automatisch gegen einen ökonomischen Erfolg spricht.

Torsten Casimir: Die Bereitschaft, kalkulierter zu agieren – sei es beim Schreiben oder sei es beispielsweise bei der Planung von Veranstaltungen – spielt eine immer größere Rolle. Man überlegt sich die Dinge zweimal.

Herr Casimir, wie frei sind Sie in Ihrer Planung? Und wie frei war die Buchmesse im Umgang mit Adania Shibli?

Torsten Casimir: Wir stehen als Frankfurter Buchmesse für Internationalität, für Vielfalt, für die Meinungs- und vor allem Meinungsäußerungsfreiheit. Zu uns sollen alle Menschen kommen können und alles sagen können, solange es nicht gegen deutsches Recht verstößt. Wahr ist aber auch: Die Aufgabe, von unserer Freiheit Gebrauch zu machen und die Folgeschäden des Gebrauchs möglichst gering zu halten, ist in den vergangenen Jahren aufwendiger geworden. Irgendwer erhebt heute immer gegen irgendwen Einspruch – damned if you do and damned if you don’t. Sie erwähnen die Diskussionen um Adania Shibli im vergangenen Herbst: Das war ein sehr komplexer Fall, der in den meisten Medien nicht komplex verhandelt wurde, den Anspruch kann man auch nicht erheben. Aber dem Verein Litprom, der der palästinensischen Autorin einen Literaturpreis zuerkannt und die Preisverleihung dann auf einen Zeitpunkt nach der Buchmesse verschoben hatte, hing der Vorwurf nach, man habe Shibli »gecancelt«.

Torsten Casimir

Im öffentlichen Diskurs ist an die Stelle der Neugier auf ein neues Werk der Verdacht getreten.

Torsten Casimir, Sprecher der Frankfurter Buchmesse

Ist der Vorwurf der »Cancel Culture« gerechtfertigt?

Torsten Casimir: Nein. Niemand wird auf der Frank­furter Buchmesse gecancelt. Es kommen Autorinnen und Autoren auf die Messe, die ihre Literatur, ihre Bücher zeigen wollen. Aber immer häufiger misstraut das Publikum der Literatur und überhaupt den Künsten. Im öffentlichen Diskurs ist an die Stelle der Neugier auf ein neues Werk der Verdacht getreten – dass irgendein Buch etwa anti­semitisch sein könnte, einseitig Stellung nehmen könnte in Bezug auf irgendeinen Konflikt. Es werden sofort Ausschlüsse gefordert. Das Gespräch und die Kontroverse bleiben auf der Strecke.

Man könnte also von einer Verdachtskultur sprechen – etwas, das dem Gedanken einer offenen Gesellschaft zuwiderläuft. Was können Sie als Verleger tun, um den Diskurs möglichst offen zu halten?

Oliver Vogel: Genau das zu tun. Wir haben als Buchverlag zunächst einmal einen Vorteil: Wir haben Zeit. Es dauert länger, bis Bücher fertig sind, es dauert länger, bis Bücher gelesen werden, bis eine Rezeption stattfindet, und das kann auf jeden Fall ein Vorteil sein, denn man kann genau lesen und nachdenken. Wie man am Fall Shibli sieht, sind Bücher nicht vor der Öffentlichkeit geschützt. Irgendwann kommen sie in den Bereich, wo die Dinge schnell gehen. Manchmal zu schnell. Diese Diskussion war kein glorreiches Beispiel für eine offene Diskus­sion in einer offenen Gesellschaft. Wenn Verkürzungen und Ungenauigkeiten so die Regie übernehmen wie hier, kann man nur die Kritik aushalten und beantworten, mit offenem Visier, auch als Verlag, was Berenberg ja auch gemacht hat. Wir haben das Glück, dass es bei uns eine sehr diverse Kulturszene gibt, dass es Zeitungen und Radiostationen gibt. Noch kann man hoffen, dass Diskussionen dann auch wieder in ein vernünftiges Fahrwasser geraten. Die Leser:innen müssen dann allerdings auch mitziehen und am Ball bleiben und sich weiter informieren.

Sind die Medien in einer freien Gesellschaft daran beteiligt, Mechanismen der Skandalisierung in Gang zu setzen?

Torsten Casimir: Es ist unsere Aufgabe, mit den Medien darüber im Gespräch zu bleiben, was die Gründe unseres Handelns sind, was unsere Absichten sind. Wir möchten Vertrauensräume erhalten, in denen man sich erklären kann, ohne gleich die nächste zugespitzte Überschrift zu befürchten. Ich glaube, dass das geht: der Skandalisierung mit Sachlichkeit begegnen.

Das Trostbuch »Worte in finsteren Zeiten«, das Sie nach dem 7. Oktober herausgegeben haben, Herr Vogel, in dem sehr diverse, teils unverträgliche Stimmen versammelt sind, hat das eine ablehnende Reaktion ausgelöst?

Oliver Vogel: Nein, es gab keine solche Reaktion. Anne Birkenhauer, die Übersetzerin von unter anderem David Grossman und Teilnehmerin an diesem Buch, hat einmal gesagt, die Grenze verlaufe nicht zwischen Palästinensern und Israelis, sondern zwischen denjenigen, die fair zusammenleben wollen, und denen, die die anderen weghaben wollen. Genau darum geht es. Bei der Anthologie war es so, dass wir etwa 110 Autor:innen gefragt haben, und 98 Antworten bekommen haben. Es gab also offenbar ein gemeinsames Bedürfnis und eine Bereitschaft, Texte und Sichtweisen nebeneinanderstehen und also auch sichtbar werden zu lassen.

Frau Bossong, wie geht es Ihnen bei diesem Thema im Austausch mit anderen Autorinnen und Autoren? Wie wird dies wahrgenommen?

Nora Bossong: Wenn wir über Meinungsfreiheit sprechen, macht es natürlich einen Unterschied, ob wir über den Entzug von Fördergeldern reden oder über die Zensur eines Buchs. Wenn ich eine bestimmte Meinung habe und die frei äußere, habe ich natürlich keine Garantie, dass alle mir zujubeln, aber man ist dann doch sehr weit von einer staatlichen Zensur entfernt. 
Was mir aber noch aufgefallen ist: Die Vehemenz der Reaktionen ist innerhalb meiner Lebenszeit aktuell am schärfsten. Ich weiß nicht, wie es in den 70ern war, ich weiß nicht, wie es in den 60ern war, aber zumindest in den 1990er, 2000er und 2010er Jahren war es ein bisschen kuscheliger. Jeder hatte jeden lieb und die Themen waren meist harmloser – und jetzt gerät alles sehr schnell in ein Gut-Böse-Schema, ein Schwarz-Weiß-Schema. Dazu kommt das Nicht-mehr-zuhören-Können, das grundsätzliche Misstrauen gegenüber dem anderen – und Misstrauen macht eine Gesellschaft kaputt.

Wo liegt die Ursache für dieses gewachsene Misstrauen, für die Verdachtskultur, für die Unduldsamkeit?

Nora Bossong: Soziale Medien sind Mitverursacher, aber man kann es nicht darauf reduzieren. Aber in einem Hallraum, in dem mir vor allem jene Dinge angezeigt werden, die entweder mit meiner Meinung übereinstimmen oder so konträr zuwiderlaufen, dass ich mich darüber aufrege, führt dies zu einer Zuspitzung, einem Gut-Böse-, Ja-Nein-, Freund-Feindschema. Es ist auch eine gewisse soziale Bequemlichkeit, die über soziale Netzwerke hinausgeht, denn natürlich ist es bequemer, wenn ich mich vornehmlich mit Menschen umgebe, die eine ähnliche Meinung haben wie ich. Es gibt eine gesellschaftliche Angst vor Begegnungen, die irritieren – wenn man ein Terrain betritt, in dem ganz andere Wertvorstellungen und Grundüberzeugungen herrschen. Dort stehe ich nicht mehr sicher, sondern viel wackeliger. Und ich weiß auch nicht, ob das jemals eine Tugend in Deutschland war; ich würde mir da mehr Beherztheit wünschen.

Oliver Vogel: Ganz sicher haben die sozialen ­Medien das System grundsätzlich verändert. Also die Möglichkeit, innerhalb von Sekunden eine große Öffentlichkeit zu erreichen und dies ohne Korrektiv. Deshalb finde ich es wichtig, dass es Lektorate gibt, nicht umsonst arbeite ich in einem Verlag. Ich finde es wichtig, dass es Redaktionen in Zeitungen gibt, dass es Buchhändlerinnen und Buchhändler gibt, die darauf achten, welche Bücher in ihrem Laden stehen. Nicht im Sinne von Gatekeepern, sondern im Sinne von Ermöglichern, aber eben auch von ausgebildeten Personen, die erkennen, 
wenn jemand die Meinungsfreiheit miss­brauchen will. Ermöglicher, die zwar daran arbeiten, Räume offen und weit zu halten, die aber auch deren Grenzen immer wieder diskutieren.

Nora Bossong: Es hat auch etwas mit der Erosion übergreifender sozialer Räume zu tun, mit einer Parzellierung von Lebensräumen und Gruppen. Hinzu kommen sozioökonomische Gründe, beispielsweise wenn Gewerkschaften gerade in besonders prekäre Dienstleistungsbereiche wie etwa den Lieferservice nicht mehr hineinreichen und jeder Beschäftigte zum Einzelkämpfer wird.

Torsten Casimir: Formate und Algorithmen in Social Media prämieren das Gleichsinnige. Dissidente Meinungen führen hingegen zu Ausschlüssen aus Bubbles und gleichgestimmten Resonanzräumen. Auch das Fernsehen führt uns Schwarz-Weiß-Formate vor, in Talkshows werden die Grautöne, die Zwischen­töne und die Verständigungsphasen nicht gemocht. Das Schnelle, Laute und Vereinfachende ist in Vorhand geraten.
 

Diskussion im lichtdurch­fluteten Raum: Zuhören, Nachdenken, Widersprechen

Ein Blick auf das Programm des Gastlandauftritts Italiens: Ist da für genügend Grautöne gesorgt?

Torsten Casimir: Ja, es ist für Vielfalt gesorgt, weil viele Menschen beteiligt sind an diesem Programm. Es liegt in den Händen des italienischen Verlegerverbands AIE, die Menschen hierherzubringen, und auch in den Händen deutschsprachiger Verlage, ihre eigenen Autorinnen und Autoren aus dem Italienischen vorzustellen. Und das alles passiert. Deshalb habe ich keine Sorge, dass wir im Oktober einen bunten Strauß italienischer Gegenwartsliteratur in Frankfurt haben werden. Die Vielfalt ist hier ein ­natürlicher Effekt des gesamten Prozesses.

Oliver Vogel: Wir können uns freuen, dass Italien Gastland ist. Es ist eine Möglichkeit, auch ein anderes Italien zu erleben als das, das momentan durch die Regierung repräsentiert wird.

Torsten Casimir: Gastlandauftritte werden über Jahre vorbereitet, der Vertrag mit Italien wurde noch vor den Jahren der Pandemie geschlossen und also deutlich vor der jetzigen politischen Konstellation, die wir in Rom haben. Dann beginnt die Zeit der Vorbereitung, in der man mit vielen beteiligten Menschen, vor allem aus den Verlagen über Jahre zusammenarbeitet. Ein Übersetzungsprogramm für 100 Titel entsteht nicht ad hoc.

Wie sollte der Buchhandel mit extremen Inhalten umgehen? Aktuelles Beispiel ist das als gesichert rechtsextrem geltende Magazin »Compact«.

Oliver Vogel: Der Buchhandel hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, bestimmte Dinge zu verhindern; antidemokratische, rassistische Inhalte muss man nicht im Laden haben. Der Bahnhofsbuchhandel hat lange gebraucht, um sich derart eindeutig dazu zu verhalten. Die meisten Buchhandlungen führen auch den Antaios Verlag nicht.
 

Es gibt aber unverdächtige Sortimente, die Bücher rechter Autor:innen mit ­Bedacht in ihren Laden stellen, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich darüber zu informieren.

Torsten Casimir: Einige Buchhändler haben die sympathische Auffassung, man müsse wissen, wogegen man sich wendet. Es bringt nichts, immer über Antaios und Schnellroda als den Thinktank der Neurechten zu reden, wenn man keine Ahnung hat, worum es da substanziell geht. Man wendet sich mit einer  gezielten Titelauswahl an die mündigen Leserinnen und Leser. 

Oliver Vogel: Aber Antaios verkaufen wie jedes andere Verlagsprogramm? Ich finde das schwierig. Ich würde solche Bücher in meiner Buchhandlung nicht erwarten. Wenn sie im Regal stehen, ist das Teil der Normalisierung rechten Denkens, die ich problematisch finde, zumindest in der momentanen labilen gesellschaftlichen Lage.

Nora Bossong: Ich habe ein Antaios-Buch, das sich mit Antonio Gramsci beschäftigt, auf den sich die neue Rechte ganz explizit bezieht. Für mich ist es relevant zu wissen, was die neuen Rechten aus Gramsci machen, weil sie ihn sehr gründlich gelesen haben, ziemlich anwendungsorientiert. Vieles, was die neuen Rechten aktivistisch durchziehen, kann man so bei Gramsci finden, natürlich mit einer deutlich anderen Ideologie im Sinn.

Meinungsfreiheit wird oft inszeniert, gepaart mit Demokratiefreundlichkeit. Muss man sich vor Aktivismus in diesen Dingen hüten?

Torsten Casimir: Man muss sich vor dem Wohlfeilen hüten, vor dem Unauthentischen. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit einen geschärften Sinn dafür hat, ob jemand ein echtes Anliegen vorträgt oder nur so tut, als ob.

Nora Bossong: Wovor ich ein bisschen warnen würde, ist eine Selbstheroisierung in dem Ganzen. Wenn ich auf den Pro-Demokratie-Demos bin, die ich erst mal völlig legitim und begrüßenswert finde, manche Leute dann aber kurz davor sind, sich als Sophie Scholl zu fühlen, dann erinnert mich das an Jana aus Kassel, die eine Querdenker-Demo anmeldete und sich auch wie Sophie Scholl fühlte. Also die Inflation von Sophie-Scholl-Wiedergängerinnen macht mir ein bisschen Gedanken. Eine gewisse Demut einzunehmen vor dem, was andere geleistet haben, für realistische Maßstäbe, dafür würde ich plädieren.

Da kommt der Nawalny-Moment, der einem klarmacht, was es bedeutet, für eine Sache wirklich einzutreten. Vielen Dank für das Gespräch. 

Das Gespräch moderierte Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.

Bei dem auf boersenblatt.net publizierten Gespräch handelt es sich um eine leicht erweiterte Fassung des Interviews, das in Börsenblatt 9/2024 vom 2. Mai erschienen ist.

WOCHE DER MEINUNGSFREIHEIT

Die Woche der Meinungsfreiheit wird vom Börsenverein, der Stiftung Freedom of Expression und der Frankfurter Agenturallianz getragen. Bundesweit sind 70 Partner dabei.

Zentrale Veranstaltungen sind:

3. Mai, 19:30 Uhr, Literaturhaus Frankfurt: Auftakt-Diskussionsabend: »Freies Wort – freies Europa?« Mit Jan-Pieter Barbian, György Dalos und Petra Reski, Moderation: Shelly Kupferberg. In Kooperation mit dem S. Fischer Verlag und dem Dezernat für Europäische Angelegenheiten der Stadt Frankfurt. Zur Ticketbuchung

5. Mai, 15:30 Uhr, Frankfurter Paulskirche: Diskussion und szenische Lesung: »In bester Verfassung?!« Der Börsenverein beteiligt sich als Partner bei dieser Veranstaltung anlässlich der Feierlichkeiten zu 75 Jahren Grundgesetz in Kooperation mit der Stadt Frankfurt, Ev. Akademie und Stiftung Orte der Demokratiegeschichte.

7. Mai, 19:30 Uhr, Frauenkirche Dresden: Diskussionsabend: »Europa hat die Wahl. Zukunft: Demokratie.« Mit Michel Friedman, Nicole Deitelhoff, Anne Rabe, Anne Hähnig, Noam Petri, Moderation: Klaus Brinkbäumer (mdr), in Kooperation mit der Stiftung Frauenkirche Dresden, ZEIT Stiftung Bucerius, Palm-Stiftung, ZEIT Verlagsgruppe. Zur Anmeldung

Schaufenster der ­Buchhandlung Rote Zora in Merzig – zusammengestellt von Azubi Gianluca ­Mellusoe

Weitere Termine (Auswahl):

3. Mai, 16-18 Uhr, Felix Jud Bookstore, Wartburgstr. 8, Hamburg: "Banned Books": Die Hamburger Buchhandlung Felix Jud verwandelt ihre neue Filiale in der Denkfabrik The New Institute in ein Refugium für verbannte Bücher. Eine Woche lang präsentiert der Felix Jud Bookstore Titel, die derzeit in einzelnen Ländern aus Bibliotheken oder Lehrplänen entfernt oder gar nicht erst verbreitet werden. Fellows des New Institute stellen am 3. Mai jeweils ein Buch vor, das ihnen besonders am Herzen liegt.

4. Mai, 11-12.30 Uhr Stadtbibliothek Erlangen, Lesung "Blus bunte Büchwelt": Zur Drag-Lesung für Kinder ab sechs Jahren lädt die Stadtbibliothek Erlangen ein. Drag-Queen Blu Tung macht die Stadtbibliothek für eine Stunde zu ihrem Schloss – mit bunten Geschichten, die sich kindgerecht mit der Vielfalt der Menschen befassen.

6. Mai, 19 Uhr, Buchhandlung localbook.shop, Bilker Straße 19, Düsseldorf, Podiumsdiskussion "Die Demokratie wird herausgefordert": Berîvan Aymaz, Vizepräsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen, diskutiert mit Politikwissenschaftler Marcel ­Lewandowsky (»Was Populisten wollen«, Kiepenheuer & Witsch), in der Düssel­dorfer Buchhandlung localbook.shop. Moderation: Helga Frese-Resch, ­Sprecherin der IG Meinungsfreiheit im Börsenverein und stellvertretende KiWi-Verlegerin. Die Veranstaltung wird organisiert von der Landesgeschäftsstelle NRW des Börsenvereins. Anmeldung: hello@localbookshop.de.

7. Mai, 19.30 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstr. 45, München, Lesung "Der entmündigte Leser": Literatur muss frei sein, darf wild und böse sein und auch mal wehtun – sonst verliert sie ihren Reiz – sagt Melanie Möller, Professorin für Latinistik in Berlin. In der Buchhandlung Lehmkuhl stellt sie ihre Streitschrift »Der entmündigte Leser« (Galiani) vor.