Kommentar von Michael Roesler-Graichen zur wbg

Asyl für eine havarierte Buchgemeinschaft

4. Januar 2024
von Michael Roesler-Graichen

Herder übernimmt Programmteile der insolventen wbg in Darmstadt. Ob damit die Zukunft eines einst stolzen Projekts gesichert werden kann, wird sich zeigen. Offen bleibt zudem, was aus dem Verein mit seinen noch 60.000 Mitgliedern wird. Ein Kommentar von Michael Roesler-Graichen.

Mit der Übernahme von Programmteilen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft durch den Herder Verlag nimmt die Geschichte einer einst stolzen Institution ein trauriges Ende – kurz vor dem 75. Jahrestag der Gründung. Denn es war am 12. Januar 1949, als in Tübingen der Verein Wissenschaftliche Buchgemeinschaft gegründet wurde und mit dem Versprechen antrat, die während des NS-Regimes vernichteten geisteswissenschaftlichen Buchbestände in Bibliotheken und Universitäten in neuen Ausgaben herauszubringen. Bereits in den ersten Jahren konnte der Verein mehrere Tausend Mitglieder gewinnen, die mit Kleinkrediten die Buchproduktion unterstützten. Der 1955 in Wissenschaftliche Buchgesellschaft umbenannte Verein entwickelte sich in wenigen Jahren zum Verlag mit einem umfangreichen Programm. Entscheidend waren die Impulse, die die damalige WBG für die Geistes- und Kulturwissenschaften, aber auch für Rechtswissenschaften, Philosophie, Theologie, Altertumswissenschaften und viele weitere Disziplinen gab. 657 Bände erschienen in der frühzeitig übernommenen und ausgebauten Reihe „Wege der Forschung“, die seit dem Jahr 2000 unter dem Reihentitel „Neue Wege der Forschung“ fortgesetzt wurde.

Mit Zukäufen seit den 80er Jahren und der Entwicklung zur Verlagsgruppe begann der Weg von der reinen Buchgemeinschaft zum Buchhandelspartner. Seit 1996 wurden die wbg-Titel unter der Marke des Tochterunternehmens Primus auch im stationären Buchhandel vertrieben. Es folgten weitere Zukäufe (Theiss, Lambert Schneider und Philipp von Zabern), die als Imprints in das Programm der wbg integriert wurden.

Der Schwerpunkt wurde im Laufe der Jahre zunehmend von Wissenschafts- und Lehrbuchtiteln auf das Sachbuch verlagert, wobei das Programm im Buchhandel nicht immer die Sichtbarkeit erreichte, die ihm angemessen gewesen wäre. Immer wieder gab es auch editorische Großtaten, wie etwa die sechsbändige „wbg Weltgeschichte“, die zum 60-jährigen Bestehen im Jahr 2009 erschien. Oder auch Einzelwerke wie die Neuausgabe des „Georges“, des großen lateinisch-deutschen Handwörterbuchs. Doch der große Durchbruch des Sachbuchprogramms blieb aus, und die Zahl der vielversprechenden Titel nahm in den vergangenen Jahren kontinuierlich ab. Zuletzt beschlich einen nicht selten das Gefühl, dass der Verlag von der Hand im Mund lebe. In der Mitteilung zur Insolvenzanmeldung hieß es, dass auch generelle Umsatzrückgänge zur finanziellen Lage beigetragen hätten.

Das eigentliche Desaster war aber nach Einschätzung der Geschäftsführung die Einführung eines neuen ERP-Systems, bei dem man "eine Anhäufung gravierender Rückschläge" erlebt habe, die zu schwerwiegenden Problemen bei der Auslieferung und Rechnungsstellung geführt hätten. Dies hat die angespannte Ertragssituation weiter verschärft.

Auch der Mitgliederrückgang in den vergangenen Jahren hat die wirtschaftliche Entwicklung belastet. Waren es zu Spitzenzeiten 150.000 Mitglieder, die durch ihre Jahresbeiträge zur Finanzierung neuer Buchprojekte beitrugen, lag die Zahl zuletzt nur noch bei 60.000. Das spiegelt auch den Abschied von einer akademischen Nachkriegsgeneration, für die die wbg ein attraktives Modell war, um ihre private Bibliothek aufzubauen. Allein die meist dreibändige Jahresgabe, die man günstig beziehen konnte, füllte in vielen Arbeits- und Wohnzimmern Regale.

Wie es nun mit dem Verein und seinen Mitgliedern, die ja regelmäßig für Umsatz sorgten, weitergeht, ist fraglich. Herder hat einen reinen Asset-Deal abgeschlossen, der ohnehin nicht alle Titel und Rechte umfasst. Die Verlagsmarken, die für die Inhalte und das Programm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft stehen, haben Darmstadt nun für immer verlassen. Ob sie nach der Integration in das Herder-Programm dauerhaft bestehen werden, wird man in einigen Jahren sehen. Herder prüft im Moment, ob es unter dem Verlagsdach ein eigenes wbg-Team geben könnte.

Im Herbst hatte Joseph-M. Seidel, geschäftsführender Vorstand der wbg, noch gesagt, man versuche eine „bestmögliche und vor allem eine tragfähige Lösung für die erfolgreiche Zukunft der wbg zu finden“. Die jetzt gefundene Lösung kann zumindest dazu beitragen, „ein wesentliches Ziel der wbg, die Förderung von akademischem Wissen und Bildung“ fortzusetzen, wie Insolvenzverwalterin Julia Kappel-Gnirs jetzt verlauten lässt. Und die Geschäftsführer fügen hinzu, man sei froh, eine neue „publizistische Heimat“ für die wbg gefunden zu haben. Aber die Frage, was mit den 60.000 Mitgliedern einer der größten deutschen Buchgemeinschaften und den Mitarbeiter:innen des Verlags geschieht, bleibt nach wie vor offen.

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