Keynote von Martin Andree

"Es scheint uns an Grips zu fehlen"

6. Juni 2025
Sabine van Endert

"Digitale Übermacht: Wie sich Mediennutzung wandelt und was das für die Buchbranche bedeutet": Der Titel von Martin Andrees Keynote klang ziemlich harmlos. Doch der Medienwissenschaftler tischte dem Publikum Zündstoff für Gegenwart und Zukunft auf.

Martin Andree

Für alle, die sich die Welt ohne www nicht mehr vorstellen können, erinnerte Martin Andree an die Anfänge: 1989 ging das World Wide Web an den Start. Bis dahin hatten die analogen Medien 100 Prozent Aufmerksamkeit. Mit der Pandemie habe sich das Verhältnis gedreht, seit Covid 19 haben laut Andree die digitalen Medien die analogen Medien überholt.

Das müsste für sich genommen noch kein Problem sein. Doch wie sieht die digitale Welt aus? Wir wissen es alle: Einige wenige Tech-Giganten teilen sich das World Wide Web. Andree erklärt es noch einmal anhand des Gini-Koeffizienten, 0 ist Gleichverteilung, 1 ist das Maximum, einer hat alles. Der Wert für das digitale Universum: 0,988!

In der "digitalokratischen Ordnung" zählen Plattform-Metriken, Likes, Shares und Views.

Martin Andree, Medienwissenschaftler und Keynote-Speaker

"Wettbewerb gibt es nicht mehr"

Medienhäuser, Blogger, Rundfunk, globale Marken: "Es gelingt weltweit keinem Player, dem Sog der digitalen Giganten zu entkommen", so Andree, "Wettbewerb gibt es nichts mehr".

Wie Big Tech den Wettbewerb abgeschafft hat? Durch Netzwerkeffekte, geschlossene Standards, Herunterregelung von Outlinks, User-generated Content ohne Honorare, keine Übernahme inhaltlicher Verantwortung und vor allem auch durch die Selbstzuteilung von Traffic.

Das Ergebnis, das Andree recht plastisch an die Wand wirft, ist das Ende freier Medien, von Unabhängigkeit, Staatsferne, Journalismus und Pluralismus. Dafür gibt es Boosting von Hass und Häme, Fake News, die Manipulation von Wahlen. Ist das verfassungskonform? Sicher nicht. "Sharing, Participation, Transparency, Freedom" – die Tech-Giganten würden uns nach wie vor mit ihren ideologischen Worthülsen einlullen und in Sicherheit wiegen, meint Andree: „Es scheint uns an Grips zu fehlen, uns dagegen zu wehren“.

"Wie stürmen wir die digitale Bastille?"

Unter den monopolistischen Bedingungen sieht Andree zwei Möglichkeiten: weiter gratis für Plattformen arbeiten oder aufgeben – oder erst das eine und dann das andere. „Und da ist die vollständige Enteignung durch KI noch nicht mit eingerechnet“, so Andree. Er nennt noch einmal die Zahlen: Das Monopol bei Suchmaschinen liegt mit über 90 Prozent bei Google, Social Media wird zu 85 Prozent von Meta beherrscht.

Das hat auch die Regeln nachhaltig verändert: Früher bekam man einen Plattenvertrag und wurde berühmt, heute ist es umgekehrt - einen Plattenvertrag bekommt, wer berühmt ist. Immer häufiger läuft das auch bei Buchverträgen so. In der "demokratischen Ordnung" hätten Abschlüsse, Titel, Ämter, Rankings, Preise und Besprechungen von Autoritäten für Reputation gesorgt, verdeutlicht Andree. In der "digitalokratischen Ordnung" zählen dagegen Plattform-Metriken, Likes, Shares und Views.

Bedingungen der digitalen Besatzungszone

Mit eigenen Webshops, EBooks, selbstgesetzten Standards für Bücher oder auch der Anpassung an BookTok würde die Buchbranche unter den "Bedingungen der digitalen Besatzungszone" alles richtig machen. Doch wie „die Bastille stürmen“? Andree verspricht: Das Problem lasse sich schnell und ohne Kosten lösen, es wäre sogar leicht, das Internet zu befreien.

Nur zwei Hebel stellt er kurz vor:

  • Die Durchsetzung von Outlinks auf Plattformen, die Links sollten befreit werden und die Nutzer auf Angebote außerhalb der Plattformen weiterleiten. Nutzer dürften also nicht mehr aktiv daran gehindert werden, die Plattform zu verlassen, etwa durch komplizierte Umwege.
  • Die Durchsetzung offener Standards für Plattformen. "Wir können selber unsere Bedingungen festlegen“, sagt Andree – und meint damit, dass wir zusammen, alle, die unter den Tech-Konzernen leiden, politische und regulatorische Maßnahmen fordern müssten, um die digitale Monopolisierung zu reduzieren und fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Und das ist schon wieder nicht so einfach.

Zur Person

Martin Andree unterrichtet Medienwissenschaft an der Universität Köln. Er forscht seit mehr als 15 Jahren zu den Vormachtsstellungen von Big Tech und ist Autor zahlreicher medienkritischer Sachbücher, darunter „Big Tech muss weg“ (2023); im August erscheint, ebenfalls bei Campus, sein neues Buch “Krieg der Medien“.