Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn

"In der Migrationsfrage haben wir seit 2015 total versagt"

6. Oktober 2020
von Holger Heimann

Jean Asselborn, dienstältester Außenminister in der Europäischen Union, hat im Berliner Büro des Börsenvereins seine Biografie vorgestellt – und mit seinem deutschen Amtskollegen Heiko Maas diskutiert. Grund genug für vier Fragen zum Zustand Europas.

„Merde alors“: Mit diesen drastischen Worten hat Asselborn 2018 wütend den italienischen Außenminister bedacht, als dieser von „Sklaven aus Afrika für Luxemburg“ sprach. Zur Vorstellung der gleichnamigen Biografie und einem Gespräch über politische Positionen (moderiert von Stephan Detjen vom Deutschlandradio) trafen sich Jean Asselborn, der für pointierte Sätze bekannt ist, und der deutsche Außenminister Heiko Maas am 5. Oktober im Berliner Büro des Börsenvereins.

Die beiden Politiker mögen und duzen sich, und sie teilen wichtige Haltungen. Auf der großen politischen Bühne aber agieren sie unterschiedlich – was auch an der Größenordnung und der Rolle ihrer Länder liegt. „Er sagt Dinge, die ich nicht sagen kann. Doch ich bin oft hundert Prozent seiner Meinung“, bekannte Maas. Asselborn entgegnete: „Deswegen werde ich häufiger gebeten, Interviews zu geben.“

Der unterhaltsame Abend führte denn auch solche Unterschiede in punkto diplomatischer Zurückhaltung vor. Maas will nicht als Oberlehrer der EU auftreten: „Wir können nicht sagen, wir haben den moralischen Kompass für alle. Eine andere Migrationspolitik ist nicht gleichbedeutend mit fehlender demokratischer Kultur.“ Asselborn hingegen sieht europäische Grundwerte gefährdet: „Wir können nicht zehn Jahre so weitermachen, wenn wir uns noch als Gemeinschaft mit Werten definieren wollen.“

Grund genug für vier Fragen an den Außenminister von Luxemburg, gestellt am Rande der Veranstaltung.

Sind die gegenwärtigen Probleme zu groß für die EU?

Die Probleme, die die Corona-Pandemie mit sich bringt, sind weltweit unheimlich groß. Wir haben da kein Monopol. Aber die EU hat gerade am Anfang zusammengestanden, denken Sie nur an die Aufnahme von Kranken. Ich vermisse jedoch einheitliche europäische Kriterien: Wann ist eine Region Risikogebiet und wann nicht?

 

Ist in Krisenzeiten noch Platz für Solidarität mit den Schwächsten?

Wenn wir es hinkriegen 1,8 Billionen Euro Coronahilfen zu bündeln, dann müssten wir es auch schaffen, ein paar zehntausend Flüchtlingen im Jahr, die im Mittelmeer gerettet werden oder die sich auf Moria befinden, eine Chance zu geben und eine Perspektive für ihr Leben zu eröffnen. Das ist leider nicht der Fall. Wir haben seit 2015 in der Migrationsfrage total versagt. Wir hatten 2015 vier bis fünf Länder, die Probleme hatten, wir haben jetzt vier bis fünf Länder, die helfen, wenn Flüchtlinge gerettet werden. Das widerspricht dem Wort Menschlichkeit.

 

Was macht Ihnen Hoffnung, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern könnte?

Darauf habe ich keine Antwort. Derzeit macht mir nichts Hoffnung, dass wir als Gemeinschaft von 27 Ländern unsere Verantwortung sehen und mithelfen werden. Wenn wir das seit 2015 getan hätten, gäbe es kein Moria. Wir sind auseinandergedriftet, und ich weiß nicht, wie wir wieder zusammenkommen. Wir geben ein Bild ab, was früher in Europa für unmöglich gehalten wurde, wenn wir Probleme in Afrika oder auf anderen Kontinenten gesehen haben. Wir werden jetzt einen neuen Plan diskutieren, aber es funktioniert nur, wenn jedes Land gewillt ist, mitzuhelfen und sich nicht einzelne Länder freikaufen können. Es muss eine Klausel geben, die die Aufnahme von Flüchtlingen ab einem gewissen Moment verpflichtend macht.

 

Die Biografie, die Margaretha Kopeinig über Sie geschrieben hat (Czernin Verlag), trägt den Titel „Merde alors!“ – Worte, mit denen Sie den italienischen Innenminister Salvini bedacht haben. Wie emotional darf oder soll Politik sein?

Politik wird von Menschen gemacht. Menschen, die Emotionalität verstecken, die verstecken auch die Herangehensweise an die Politik. Politik ist ja kein abstraktes Geschäft, sie braucht den Einsatz der Menschen. Und diese Menschen können durchaus zu der Überzeugung kommen, dass man einmal laut schreien muss. Dieses „Merde alors“ hat die Welt nicht verändert. Es ist für viele aber ein Aufschrei gewesen, dass man in einem kultivierten Europa anders mit Menschen umgehen muss, die alles verloren haben und versuchen, zu uns zu kommen, um eine Chance auf ein besseres Leben zu haben.