Eröffnungsrede der Vorsteherin

Nicht die Vergangenheit feiern, sondern die Zukunft ausloten!

5. Juni 2025
Redaktion Börsenblatt

Karin Schmidt-Friderichs hat am letzten Donnerstag (5. Juni) den großen Jubiläumskongress des Börsenvereins in Berlin eröffnet - der den Mitgliedern Handfestes mit auf dem Weg in die Zukunft geben will. Denn, so die Vorsteherin, die Branche stehe an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Ihre Rede im Wortlaut.

Karin Schmidt-Friderichs

Karin Schmidt-Friderichs 

Zweihundert Jahre! Das muss man erstmal schaffen! Zweihundert Jahre ist der Börsenverein alt - und das ist ein Grund zu feiern. Dass er fürstlich feiern kann, davon zeugen Geschichte und Geschichten, nicht zuletzt in dem zum Jubiläum erschienenen Band „Zwischen Zeilen und Zeiten“ (mehr dazu hier).

Wir aber haben uns entschieden, nicht die Vergangenheit zu feiern, sondern die Zukunft auszuloten und mit Ihnen gemeinsam neue Kapitel aufzuschlagen. Wege zu suchen, zukunftsgerichteten Nutzen zu schaffen und jedem Mitglied etwas Handfestes mitzugeben.

Diese Branche spielt eine elementare gesellschaftliche Rolle!

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Wir clustern das Programm in vier Stränge, die Zukunftsthemen der Branche angehen:

  • Neue Positionen, also Denkanstöße für eine Welt im Umbruch, für eine Welt, in der es mehr Autokratien als Demokratien gibt, in der die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Wir stellen uns die Frage,was wir als Branche und als Einzelne tun können, um unserer Rolle in einer freiheitlichen, vielfältigen Gesellschaft gerecht zu werden. Diese Gesellschaftsform zu stützen, Hass und Hetze, Fake News und digitalen Desinformationskampagnen entgegenzuwirken. Und Sie werden sehen: diese Branche spielt eine elementare gesellschaftliche Rolle!
  • Neue Antriebe, also Handlungsimpulse und Mutmacher. Wir beleuchten neue Technologien, ihre Chancen und Risiken und arbeiten die Kompetenzen heraus, die es für die Zukunft braucht. Mit konstruktivem Blick und Zukunftsmut.
  • Neue Gewohnheiten, also die Frage, wie wir als Branche auf verändertes Mediennutzungsverhalten reagieren, es mitgestalten. Hier gibt es Anregungen zu erfolgversprechenden neuen Routinen: Dem erfolgreichen Auf- und Ausbau von Buch-Communities zum Beispiel – digital oder analog vor Ort, vom klassischen Vorlesen bis zum Trend des Silent Reading. Hier gibt es Einblicke in neue Lesefreuden und -gewohnheiten und neue Publikationswege und -formate.
  • Neues Handeln, weil Träume immer nur dann wahr werden, wenn wir ihnen ein Stück entgegenkommen. Wir erleben eine Renaissance des physischen Ortes in digitalen Zeiten, entdecken Buchhandlungen als Herzschrittmacher der Innenstädte, erkunden Lokalität und Nachhaltigkeit und entdecken die Potenziale der Backlist.

Danke an alle, die heute und morgen hier mit Thesen und Hypothesen, Denkanstößen und Erfahrungsberichten, Best Practice und Zukunftsmut auf die Bühnen kommen.

Karin Schmidt-Friderichs

Wir tun das an zwei Tagen auf vier Bühnen, wir tun das nicht getrennt, sondern treffen uns immer wieder an der Main Stage. Wir tun das in unterschiedlichen Darbietungsformaten frontal und interaktiv – und wir tun das gemeinsam anders!

Einen solchen Kongress hat die Buchbranche noch nie erlebt!

Dass dies möglich wird, verdanken wir einem Powerteam, das seit zwei Jahren im Hintergrund daran arbeitet, diesen Kongress zu organisieren.

Wir verdanken es Solidaritäts-Sponsoren, die es ermöglicht haben, dass auch Vertreter:innen kleiner Unternehmen und junge Fachkräfte heute unter uns sind.

Sie sehen diese Unterstützer hier namentlich und das ist einen Applaus wert.

All das aber ist noch nichts, wenn sich nicht beinahe hundert Sprecher:innen auf den Weg machen – und das haben sie: Danke an alle, die heute und morgen hier mit Thesen und Hypothesen, Denkanstößen und Erfahrungsberichten, Best Practice und Zukunftsmut auf die Bühnen kommen.

Sie schlagen mit uns neue Kapitel auf – und Sie schreiben die Geschichte der Branche an der Schwelle zu einer neuen Zeit fort!

Ohne Sie, die Mitglieder, wäre der Verein ein Buch ohne Seiten, ein Rahmen ohne Inhalt. Deshalb feiern wir heute Sie! Und alles, was Sie tagtäglich leisten.

Karin Schmidt-Friderichs

Aber nicht nur auf den Bühnen wird die Geschichte weitergeschrieben, nein: die eigentlichen Akteure dieser Branche sind Sie, liebe Mitglieder. Ohne Sie wäre der Verein ein Buch ohne Seiten, ein Rahmen ohne Inhalt.

Sie machen den Börsenverein aus, Sie schlagen jeden Morgen neue Kapitel auf, Sie machen diesen Verein zu dem, was er ist. Dank Ihres Einsatzes vor Ort. Dank Ihres ehrenamtlichen Engagements, dank Ihrer Kreativität und Aktivität.

Deshalb – und das ist mir ganz wichtig – feiern wir heute nicht die Geschichte, wir feiern nicht den Börsenverein, wir feiern Sie! Und alles, was Sie tagtäglich leisten!

Die aktuelle Geschichte des Börsenvereins ist voll von Cliffhangern.

Karin Schmidt-Friderichs

Dranbleiben, umblättern, weiterlesen

„Neue Kapitel“ haben wir die Konferenz genannt, und da liegt es nahe, zu überlegen, was die Menschen, denen die ganze Branche ihr Dasein verdankt – Autorinnen und Autoren – tun, damit die andere wesentliche Gruppe, die über unsere Existenz entscheidet – Leserinnen und Leser –das tun: Neue Kapitel aufschlagen – oder schlicht: dranbleiben. Umblättern. Weiterlesen.

Wie entsteht der Sog des Lesens? Wie facht man Buchbegeisterung an? Was macht, dass wir ein gutes Buch immer etwas später aus der Hand legen als wir das vorhatten?

Was macht, dass wir selbst Bücher, die wir schon gelesen haben, immer wieder gerne zur Hand nehmen?

Eines der rhetorischen Mittel erfolgreicher Autor:innen ist der Cliffhanger, ein Stilmittel, das eingesetzt wird, um Neugier, Ungewissheit und den starken Wunsch auszulösen, weiterzulesen.

Weiter zu lesen, weil die Geschichte in einem Moment höchster Spannung abbricht, ohne die aufgeworfene Frage zu beantworten oder den Konflikt aufzulösen. Oder eben mit anderen offenen Fragen…

Zwischen Tech-Dieben und Bürokratiemonstern

Die aktuelle Geschichte des Börsenvereins ist voll von Cliffhangern:

Da ist der plötzliche Twist:

Man glaubt, die in Brüssel haben verstanden: Künstliche Intelligenz - AI - braucht Regeln, der AI Act kommt, aber dann stellt sich heraus: die Interessen der Plattformen an urheberrechtlich geschützten Texten sind größer als ihre Bereitschaft, diese Rechte zu honorieren.

Und das Interesse der Politik an Techfirmen – auch an europäischen – ist größer als das am Erhalt einer content-produzierenden Infrastruktur…

Wird die Politik klug und weise sein und erkennen, dass Urheber:innen und Verlage gar nicht mauern, sondern nur Transparenz und faire Entlohnung einfordern, wenn ihre Texte zum Training von Large Language Modellen herangezogen werden? Und wird sie die Weichen dafür stellen? Oder wird es beim ungeahndeten Diebstahl bleiben?

Da ist der Countdown:
Der Tod der Innenstädte zeichnet sich ab, zu lange haben Städte und Gemeinden weggeschaut, als extreme Innenstadtmieten zum überall gleichen anonymen Handelskonzernmix führten und die kleinen Läden – das Salz in der Suppe - verdrängten.

Dann kam Corona – und plötzlich gähnende Leere in den Zentren. Wird es mutige Bürgermeister:innen geben, die kulturelle Einrichtungen, Buchhandlungen und partizipative Initiativen in Innenstädten und Ortskernen fördern, Vielfalt und eine soziale Durchmischung?

Der Weggabelungsmoment:

Eine schier unendliche Vielfalt an Verlagen, Programmen, Ausrichtungen und Prägungen beschert Deutschland eine faszinierende Bibliodiversität. Man feiert diese Vielfalt, aber – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – agieren viele dieser Verlage am Existenzminimum.

Verlagspreise bitten auf Bühnen, Banken gewähren aber keine Kredite auf die Hoffnung auf Preise. Wird eine verlässliche, dauerhafte und planbare Verlagsförderung – wie es sie in Österreich und der Schweiz gibt – rechtzeitig kommen, um ein Verlagssterben zu verhindern?

Das beunruhigende Detail:

Alles scheint klar: Kurz nach der Gründung des Börsenvereins wurde Land für Land die allgemeine Schulpflicht eingeführt, das Bildungsniveau stieg und stieg – und dennoch können heute ein Viertel der Grundschulabsolvent:innen nicht sinnentnehmend lesen. Sie verlieren damit den Anschluss. Nicht nur in Deutsch. Auch weit darüber hinaus im Bildungssystem – und in der Gesellschaft.

Wird eine längst überfällige, bundesweite, strategische Leseförderung eines der reichsten Länder der Welt vor einer fortschreitenden Bildungsmisere bewahren?

Der Rückgriff auf die Zukunft:

Eine dramatische Szene in der Zukunft zeigt, dass Schule (wie sie heute verstanden wird) schlecht oder gar nicht auf Karrieren in und auf die Gestaltung von einer digitalen Welt vorbereitet. Wird es Europa gelingen, High Potentials auszubilden und zu binden, um seine Vorreiter-Rolle in der Zukunft zu behaupten?

Der moralische Cliffhanger:

Hier geht es nicht um Action, sondern um ein Dilemma. Da gibt es eine gute Idee: Der weltweiten Entwaldung stellen wir eine Richtlinie entgegen. Mit europäischer Gründlichkeit kartografieren wir die Welt der Bäume und bauen daraus ein kleines Monster, das wir EUDR nennen. Super Idee, ein bisschen an der Realität in den Unternehmen vorbeigedacht.

Macht nix, ist für einen guten Zweck. Aber: Wie viel Bürokratie kann eine Wirtschaft stemmen, die vom Mittelstand geprägt ist? Wie viel eine Branche der kleinen Mittelständler wie die Buchbranche? Wann ist der Moment, wo das Bürokratiemonster seinen Sinn verfehlt?

Die Buchbranche war nie besonders margenstark. Sie leidet deshalb ganz besonders unter der aktuellen Agglomeration von Krisen.

Karin Schmidt-Friderichs

Meine Damen und Herren, das sind – in Cliffhangern verpackt – nur einige der Fragen, die uns im Vorstand des Verbandes beschäftigen. Es gibt darüber aber etwas, das uns alle hier im Raum beschäftigt – und ich möchte diesen Elefanten benennen: Die Buchbranche war nie besonders margenstark. Sie leidet deshalb ganz besonders unter der aktuellen Agglomeration von Krisen.

Das führt dazu, dass wir manchmal den Blick beinahe ausschließlich auf die aktuellen Zahlen richten und wenig auf die Zukunft und neue Geschäftsmodelle und Chancen. Dieser Kongress will Sie für zwei Tage aus dieser verständlichen Verengung des Denkens befreien. Köpfe durchpusten, neue Ideen anstoßen, Zukunft als Chance aufzeigen.

Als Verantwortungsträger:innen ist es unser Job, Risiken zu sehen, zu analysieren und ihnen die Stirn zu bieten. Wir haben gelernt: „Man muss immer auch mit dem Schlimmsten rechnen“ und wir nennen das sehr richtig „Verantwortung“.

Bühne frei für Robert Habeck!

Das ist wichtig, aber es darf uns nicht den Möglichkeitssinn verstellen, den Blick auf die Chancen der Veränderung.

Und deshalb möchte ich enden mit einer wahren Geschichte aus meiner nun fünfeinhalbjährigen Vorsteherinnenzeit: Als ich im November 2019 antrat, diesen Verein mit dem neu gewählten Vorstand auf einen Kurs zu mehr Mitgliedernähe und Mitgliedernutzen zu führen, zu mehr Transparenz und weniger Hierarchie, zu flacheren Strukturen und effizienteren Abläufen… da waren unter anderem gerade die „Buchtage 2020“ in Planung.

Ich wünschte mir Robert Habeck als Key Note Speaker. Ich schrieb ihm – und er sagte zu. Dann kam alles anders: Buchmessen, Lesungen und andere wichtige Veranstaltungen rund ums Buch mussten abgesagt werden, natürlich auch die Buchtage in Berlin. Das Ellington ging pleite und die Tagungsstätten, die überlebten, erhöhten ihre Preise, sodass das Konzept Buchtage in den Bereich des nicht mehr Finanzierbaren rückte.

Wir trafen uns dann als Branche, als es wieder ging, dennoch: auf dem Mediacampus. Im Literaturhaus Frankfurt. Auf den Messen. Dann kam die Idee zu diesem Kongress zum Jubiläum. Die Ampelkoalition war gerade geplatzt, die Zukunft der geschäftsführenden Minister:innen unsicher. Keine einfache Zeit, um eine Mailanfrage zu platzieren…

In dieser Zeit der Unsicherheit sagte einer ein klares und einfaches Wort: JA – und das zeigt mir und Ihnen: „Man muss auch mit dem Besten rechnen!“

Bühne frei für Robert Habeck!