Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs über ihr Amt in Corona-Zeiten

"Wir brauchen die analoge Buchmesse"

30. Juli 2020
von Torsten Casimir

Im Oktober 2019 trat die Mainzer Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs ihr Amt als Vorsteherin des Börsenvereins an. Sie startete mit Plänen, Partnern und klaren Prioritäten. Dann kam Corona, und in den Vordergrund trat zunächst akutes Krisenmanagement.

Letzten Sommer wurden Sie zur Vorsteherin gewählt, seit Oktober haben Sie das Amt inne. Wie laufen die Amtsgeschäfte?
Ende Oktober bin ich gut vorbereitet und voll Vorfreude ins Amt gestartet. Die Stabübergabe mit Heinrich Riethmüller lief gut, eine „Tour der offenen Ohren“ zu den unterschiedlichsten Playern der Branche lag hinter mir und ich fühlte mich gewappnet. Der Vorstand zur Hälfte mit erfahrenen und zur Hälfte mit neuen Personen besetzt, das schien mir eine ideale Mischung. Und dieses Gefühl hat sich bestätigt. Wir haben inzwischen weit mehr digitale als analoge Sitzungen hinter uns. Dieser Vorstand trägt Verantwortung in radikal veränderten Zeiten. Wir diskutieren offen und auch kontrovers, aber immer kollegial und kooperativ. Dafür bin ich sehr dankbar. 

Was ist Ihnen bisher gut geglückt, wo gibt es Herausforderungen? Welche Aufgabe hat für Sie jetzt höchste Priorität? 
Auf meiner Agenda standen Mitgliedernähe und Mitgliedernutzen ganz weit oben. Und ich glaube, gerade in der Zeit des Lockdowns hat sich der Verband bewährt, hat schnell und effizient Nutzen gestiftet. Nicht zuletzt durch die Zoomkonferenzen. Dafür danke ich allen, die im Hauptamt und im Homeoffice die Ärmel hochgekrempelt haben. Es gab und gibt noch einen Punkt, der für mich Priorität hatte und hat: der Branchenzusammenhalt. Und auch den haben wir in Corona-Zeiten bewiesen. Dazu brauchte es mich gar nicht. 
Dafür sind neue Punkte auf die Liste der Herausforderungen gekommen: Nach den Absagen der Messen in Leipzig, London und Bologna, nach dem Ausfall aller Literaturfestivals braucht das Buch Aufmerksamkeit. Präsenz. Das steht jetzt ganz oben auf der Liste. Und hinter den Kulissen gilt es, Budgets den veränderten Realitäten anzupassen.  

Beim Jahresauftakt vor den Publikumsverlagen haben Sie über den Umgang mit volatilen, unsicheren Lagen gesprochen, für die es kein eindeutiges „Richtig“ gibt. Sind Sie zufrieden mit dem Umgang der Branche in Sachen FBM20?
Ja, das Ansprechen von Ambiguität und Unsicherheit in München sollte gleich zum Prüfstein werden. Die Diskussion um und die Entscheidung für die Messe war von Unsicherheit und Volatilität geprägt. Zumal die Kriterien nicht gegeneinander abzuwägen sind. Wenn ein Verlag entscheidet, das Gesundheitsrisiko nicht eingehen zu wollen, dann kann und darf das nicht gegen Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Wirtschaftlichkeit ausgespielt werden. Diese Entscheidung ist genauso „richtig“ wie die, einen Gemeinschaftsstand zu bespielen, nur als Besucher zu kommen, oder, oder oder. Dass diese Situation für das Team der Buchmesse eine extreme Herausforderung darstellt, liegt auf der Hand. Ich hoffe, dass die vier Millionen Euro, mit denen die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters die Messe unterstützt, dabei helfen, die Herausforderung zu meistern.  

Wann entscheiden Sie, ob der Verlag Hermann Schmidt im Oktober physisch dabei ist?
Mein Mann und ich werden als Verleger – und ich zudem ja in der Vorsteherinnenrolle – in jedem Fall auf der Messe sein. Wir planen einen kleinen Stand, haben aber im Moment noch von keiner Mitarbeiterin, keinem Mitarbeiter die Zusage, diesen Stand zu betreuen, während wir unterwegs sind. Wir überlassen diese Entscheidung ganz dem Team, und wer auf die Messe geht, geht anschließend zwei Wochen in Quarantäne. Das ist Bedingung. Ich bin optimistisch, dass sich eine oder einer findet, der oder die uns begleitet und den Verlag vertritt. 

Buchmessen sollten uns so inspirieren, dass ein Leben ohne sie zwar möglich, aber nicht wünschenswert ist.

Karin Schmidt-Friderichs

Wie muss sich die Frankfurter Buchmesse verändern, um in den kommenden Jahren ihre Position als weltgrößte Branchenmesse behaupten zu können? 
Ich sprach eben von meinen beiden wichtigsten Punkten Mitgliedernähe und Mitgliedernutzen. Übertragen auf die weltgrößte Buchmesse heißen diese Punkte Kund*innennähe und Kund*innennutzen. Der Kund*innenkreis der Messe ist sehr groß und sehr divergent. Als Vorsteherin des Börsenvereins sehe ich vor allem unsere Mitglieder und deren Nutzen: Es wird also zu klären sein, wie es gelingt, den großen und den kleinen Ausstellern ein optimales, sinnvollerweise hybrides Sichtbarkeitsangebot zu schneidern, das nach den Einbußen des Corona-Jahres wirtschaftlich vertretbar ist. 

Wird „Fläche gegen Geld“ als Geschäftsmodell weiter an Bedeutung verlieren? 
Damit ist zu rechnen. Da die Aussteller nicht Quadratmeter kaufen, sondern Kontaktfrequenz, Kontaktqualität, Umfeld und Erfolgspotenzial, muss das im Fokus des Messeteams stehen. Die digitale Buchmesse, die dieses Jahr vielleicht eher als Prototyp gelten darf, muss meines Erachtens fester Bestandteil der Messe werden. Dennoch brauchen wir die analoge Messe in neuer Strahlkraft für 2021, um das Buch im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Was die internationalen Aussteller angeht, erfährt die Messe von den Ländern derzeit viel Solidarität. Ich hoffe, die Erfahrungen von 2020 werden trotz Corona so gut sein, dass dieser Trend ausgebaut werden kann. Und dann sind da noch Presse und Öffentlichkeit. Nur wenn es gelingt, dass die Frankfurter Buchmesse im Corona-Jahr so gut es eben geht und 2021 wieder in voller Strahlkraft leuchtet und Leser*innen, Blogger*innen, Journalist*innen und Buchhändler*innen zuhauf anlockt, wird sie ihre Führungsposition behaupten. Ich bin fest davon überzeugt, dass das geht. Und ich glaube nicht, dass wir dazu eine Musikmesse brauchen. 

Wie überhaupt werden Buchmessen in drei Jahren aussehen? Was wünscht sich in dieser Frage eine Verlegerin? 
Buchmessen sind Marktplätze und Begegnungsstätten. Sie sollten das Anbahnen von Geschäften aller Art fördern, Verlagen und Autor*innen Sichtbarkeit geben und alle Messebesucher*innen und -teilnehmer*innen so inspirieren, dass ein Leben ohne Buchmesse zwar möglich, aber nicht wünschenswert ist. Dazu braucht es vielleicht auf Dauer eher Agoren als Gänge und digitale Verlängerungen ins Jahr hinein. Aber was wir bisher hatten (im letzten Jahr immerhin einen Besucherrekord), darauf kann man gut bauen. 

Verlage und Buchhandlungen erfreuen sich gerade hoher politischer Wertschätzung und konkreter Hilfen. Welches Konzept der Kulturförderung braucht die Buchbranche langfristig, um die Vielfalt des Handels und des Angebots sichern zu können? 
Das müssen wir miteinander erarbeiten. Im Moment stehen Unabhängigkeitswunsch und wirtschaftliche Realitäten einander etwas unversöhnlich gegenüber. Ein ganz einfacher und überfälliger Schritt ist die Rückeinführung der Verlegerbeteiligung. Das darf nicht noch länger dauern. Aber ein Konzept der Kulturförderung muss mit viel Sorgfalt bedacht werden. Es muss die Unabhängigkeit der Verlage von der Politik sicherstellen, die Vielfalt auf Handels- und Verlagsseite fördern, und es muss von der gesamten, so facettenreichen Branche als fair erlebt werden. Als Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens plädiere ich übrigens explizit dafür, dass auch große Branchenplayer Unterstützung bekommen dürfen. Ein Klein-Groß-Konflikt tut unserer Branche nicht gut. Wir brauchen die Vielfalt, und dazu gehören auch unterschiedliche Unternehmensgrößen und -strukturen.  

Der Lesermarkt bleibt unter Druck, im vergangenen Jahr hat die Branche abermals etwa eine Million Leserinnen und Leser verloren. Lässt sich der Trend umkehren, und wenn ja: wie? 
Wir dürfen beim Betrachten dieser Zahl nicht vergessen, dass die Zeit der Menschen nicht vermehrbar ist. Jedes neue Medienangebot ist Konkurrenz um die knappe Ressource Zeit und Aufmerksamkeit. Wer gamt, liest nicht, wer Netflix schaut, auch nicht. Wenn man sich den Podcast-Boom und andere Medientrends vor Augen führt, pendelt die Zahl der Buchkäufer*innen noch im ganz guten Bereich. Dennoch ist jede und jeder, der oder die keine Bücher kauft und liest, eine zu gewinnende Kundin bzw. ein Kunde. Deshalb brauchen wir auf Verlags- und Handelsseite konsequente Leser*innenorientierung.  

Was heißt das denn konkret? 
Wir müssen alles daransetzen, dass Leser*innen unkompliziert zum Buch ihrer Träume oder ihres Wissensdurstes kommen. Und wir müssen gemeinsam mit den Medien Büchern und Geschichten eine Bühne bieten. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse der Studie zu den Orientierungssystemen, die der vorhergehende Vorstand auf den Weg gebracht hat. Ich freue mich über jede Interviewanfrage – und nehme jede an. Und ich bitte die Entscheider*innen in den Medien, Formate zu Büchern nicht nur nicht einzustellen und nicht einzudampfen, sondern auszubauen. 

Brauchen wir mehr Kampagne fürs Buch und fürs Lesen? 
Gemeinsam mit der Stiftung Lesen erarbeitet ein Team des Börsenvereins ein Konzept für einen Lesegipfel, und vom Vorlesewettbewerb bis zum Deutschen Buchpreis und Deutschen Sachbuchpreistragen wir dazu bei, die Aufmerksamkeit der Menschen aufs Buch zu lenken. Alles, was in dieser Richtung an Ideen sprudelt, hilft den Trend umzukehren bzw. die Welle, die 2018 ja in Richtung mehr Käufer*innen wogte, wieder in diese Richtung zu lenken. 

Ich glaube nicht nur, dass wir Klein und Groß, Independent und Kette brauchen, ich glaube auch, dass dieser Facettenreichtum uns Branchenumsatz beschert, der sonst zum Nippesladen oder Blumenladen abwandern würde.

Karin Schmidt-Friderichs

Wie ist es aus Ihrer Sicht um den Branchenzusammenhalt bestellt? Gibt es noch einen Sinn dafür, dass gemeinsame Stärke einen Vorteil für alle bedeutet? Oder werden die Gräben zwischen Großen und Kleinen breiter?
Als Erstes ist es mir ein Anliegen, für den Zusammenhalt in den Wochen des Lockdowns zu danken. Da haben die Zahnräder Verlagsauslieferungen, Barsortimente, Handel – trotz allen Sandes der Hygienevorschriften im Getriebe – hervorragend zusammengespielt. Nur deshalb konnten wir die Menschen in dieser Extremsituation mit dem Grundnahrungsmittel Buch versorgen, während ein großer Onlinehändler auf andere Papierware, Desinfektionsspray und Mehl setzte. Dass ich das Nebeneinander von kleinen und großen Playern für eine unabdingbare Voraussetzung für eine vielfältige, prosperierende Buchkultur halte, kann ich gar nicht oft genug betonen. Die Mischung macht‘s – und sie kann es nur geben, wenn unterschiedliche Unternehmenskonzepte nebeneinander überleben können. Wenn es mir gelänge, diesen Gedanken in den Hinterköpfen derer, die Konditionengespräche führen, zu verankern, dann hätte ich viel erreicht. 

Kleinere Sortimente haben während der akuten Corona-Krise wirtschaftlich viel besser abgeschnitten als Filialisten und haben ihnen Marktanteile abgenommen – eher eine Momentaufnahme oder eher ein Trend? 
Es gibt Situationen, in denen kleine, inhabergeführte Unternehmen ihre Anpassungsfähigkeit und Agilität unter Beweis stellen können – das haben die kleinen Sortimente mit beispiellosem Einsatz gezeigt. Dass den Ketten in den A-Lagen in der Zeit des Lockdowns die Kund*innen fehlten, lag dran, dass die Städte menschenleer waren. Ich glaube, es gibt sehr unterschiedliche Kund*innen und unterschiedliche Kaufimpulse. Wenn ich mittags durch die Fußgängerzone einer Stadt laufe, mein Lunch im Laufen verzehre und mir einfällt, dass ich abends eingeladen bin, tätige ich einen anderen Kauf, als wenn ich samstags meine Buchhändlerin frage, welches Buch als nächstes auf meinen Nachttisch soll. Deshalb glaube ich langfristig nicht nur, dass wir Klein und Groß, Independent und Kette brauchen, ich glaube auch, dass dieser Facettenreichtum uns Branchenumsatz beschert, der sonst zum Nippesladen oder Blumenladen abwandern würde.  

Auch der Börsenverein steht mitten im Wandel. Wie steuern Sie den Verband, damit er zukunftssicher aufgestellt bleibt? 
Konsequente Orientierung am Mitgliedernutzen, Ausbau der Digitalkompetenz und Klimaschutz – diese Trias prägt sowohl mein persönliches Denken und Handeln als auch unsere Vorstandsarbeit jenseits von Corona. 

In der Corona-Krise hat der Verband neue Mitglieder gewonnen. Was macht ihn attraktiv? Wo kann er sich weiter verbessern? 
Der Börsenverein hat schnell als verlässlicher Partner in der Krise agiert. Fragen, die alle umtrieben, wurden allgemeinverständlich in Rekordzeit beantwortet. Das war echter Nutzen! Das war übrigens auch eine echte Leistung, für die ich Danke sagen möchte. Ich finde es richtig und konsequent, diesen Nutzen primär den Mitgliedern anzubieten. Denn das Hoffen auf Solidarität allein macht einen Verein nicht zukunftsfähig. Ich habe einige sehr konkrete Gedanken zu kleinen weiteren Schritten in Richtung Mitgliedernutzen, die aber mit den Verantwortlichen wegen der Homeoffice-Situation noch nicht abgestimmt sind. Und bevor ich meine Gedanken hinausposaune, spreche ich lieber mit denjenigen, die sie umsetzen wollen müssten, damit sie zum Erfolg werden. Ich sehe mich als Sprecherin eines kollegial arbeitenden Vorstands und als Impulsgeberin von außen, aber nicht als Chefin des Vereins. Ich bringe Ideen ein – und höre zu. Und ich freue mich, dass wo immer ich bislang Impulse gegeben habe, man mir auch zugehört hat. 

Mitgliedernähe ist Ihnen ein besonders wichtiges Ziel. Sind Sie, ist der Verband der Nähe schon nähergekommen? 
Nun, mein Handy klingelt schon recht oft am Wochenende und abends, ich bekam Lockdown-Tagebucheinträge und bekomme Anregungen auf allen Kanälen. Was mich persönlich angeht, ist das gelebte Mitgliedernähe. Die Ausschussvorsitzenden melden sich, wir stimmen viel ab, sind in gutem Austausch. Und die Mitarbeiter*innen des Börsenvereins haben gerade in der Zeit, in der wir von Social Distancing sprachen, gezeigt, dass sie für die Mitglieder da sind. Sie haben in kleinen und großen Fragen geholfen – und gegenüber der Politik mit klarer Stimme die Belange vertreten. Und das sehr erfolgreich.