Klaus Kluge über die Fachkonferenz in Potsdam

Digitale Vielfalt ist ein Zugewinn für alle

1. Juni 2021
von Börsenblatt

Zum ersten Mal nach 15 Monaten Zwangspause traf sich die Buchbranche wieder zu einer realen Fachkonferenz: 100 Gäste kamen in den Garten der Villa Schöningen. Thema des Tages: Schreiben und Publizieren im digitalen Zeitalter.

Das Programm der Tagung, die zugleich Auftakt des Literaturfestivals LIT:potsdam war, hatte Klaus Kluge mit seiner Agentur werkside entwickelt. Es fragte danach, wie die Digitalisierung die Arbeit in den Verlagen, im Buchhandel, in den Medien und nicht zuletzt für Autorinnen und Autoren verändert hat. Wo steht die Branche in der digitalen Transformation? Und wie steht sie zu ihrer eigenen Lage? – Börsenblatt online bat Kluge zum Abschluss des Tages um ein Fazit.

Wenn Sie den Stand der digitalen Transformation zwischen „immer noch Fremdeln“ und „freudige Aneignung“ einordnen sollten: Wo steht die Buchbranche aktuell?
Wenn ich die Statements der Diskutant*innen zusammenfasse: eindeutig auf freudig erregt.

Es heißt, die Zeit der Pandemie habe auch der Buchbranche einen Digitalisierungsschub auf allen Ebenen gebracht: Produktion, Handel und Konsum hätten an digitaler Kompetenz dazugewonnen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ganz offenbar ist es in den zurückliegenden Monaten gelungen, den Leser*innen und Buchkäufer*innen zu vermitteln, dass es auch jenseits großer Vertriebsplattformen vielfältige und spannende Möglichkeiten der Begegnung mit Autor*innen und deren Werken gibt. Das zeigen nicht nur die mehr als respektablen Buchumsätze etlicher mittelständischer Buchhandlungen, das zeigt auch die eindrucksvolle Publikumsresonanz, die „Leipzig liest“ in der zurückliegenden Woche erfahren hat. Und auch von der lit.COLOGNE, die erstmals rein digital stattfindet, hört man, dass – wenn die Qualität des Angebots stimmt – eine „Bezahlschranke“, anders als von manchem befürchtet, kein wirkliches Hindernis darstellt.

Hat der unabhängige Buchhandel teil an der Entwicklung?
Maria-Christina Piwowarski hat am Beispiel der Berliner Buchhandlung ocelot sehr eindrucksvoll aufgezeigt, welche Chancen sich für ein engagiertes Haus ergeben, wenn man behände die Klaviatur der digitalen Vermittlungsangebote bespielt – ob nun mit einem eigenen Literaturpodcast wie blauschwarzberlin, mit Lesungen, die auf Instagram gestreamt werden und manchem mehr. Und ich denke, dass sie sich da in bester Gesellschaft mit zahlreichen anderen Kolleginnen und Kollegen befindet, nicht nur innerhalb der eBuch- und genialokal-Gemeinde.

Digitalisierung schafft neue Erlösquellen, erfordert aber Investitionen in Infrastruktur und Personal. Fehlt es noch an tragfähigen digitalen Geschäftsmodellen?
Dass eine solche Transformation in der Tat nicht trivial ist, konnte Ulrich Wilhelm, langjähriger Intendant des Bayerischen Rundfunks, am Beispiel seines Hauses auf dem Weg in die Trimedialität aufzeigen, die neben Investitionen in Technik, Infrastruktur und neues Personal für viele Mitarbeiter*innen entsprechend veränderte Anforderungen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Ähnlich dürfte es Handel und Herstellern in unserer Branche gehen. Wir selbst, werkside, diskutieren gerade im Austausch mit potenziellen Partnern die Idee einer digitalen, autorengetriebenen Branchenplattform – spannend, mit viel Potenzial, aber eben nicht trivial.

In Potsdam ging es auch um die Frage, ob und wie die Digitalisierung die Vermittlung von Literatur verändert. Wohin geht es mit der Literaturkritik?
Erkennbar ist, dass Buchblogger und Instagrammer mehr und mehr die Rolle der klassischen Feuilletonbesprechung übernehmen, auch wenn Hannah Lühmann für die „Literarische Welt“ in Anspruch nehmen konnte, hier die Fahne hoch zu halten. Ob es von Schaden ist, wenn das abwägende Urteil des Literaturkritikers auf Sicht abgelöst wird vom persönlichen Leseeindruck des Einzelnen, sei mal dahingestellt. Einigkeit bestand jedenfalls auf beiden Podien, dass die digitalen Vermittlungsformen in ihrer Vielfalt ein Zugewinn sind für alle, die sich für Bücher und deren Autor*innen interessieren.

Ist die Klage über zu wenig Aufmerksamkeit für Bücher in den Rundfunksendern berechtigt? Oder werden neue, innovative Formen der Literaturvermittlung – Blogs, Podcasts, personalisierte Formate im TV – von der Branche zu wenig gewürdigt?
Peter Kraus vom Cleff erhielt erwartungsgemäß viel Beifall für die Forderung, das Fernsehen, ob nun öffentlich-rechtlich oder privat, möge populäre TV-Formate wie seinerzeit „Lesen!“ von Elke Heidenreich ins Primetime-Programm aufnehmen. Wäre ja schön, wenn das gelänge. Unbestritten aber blieb, dass das, was bereits heute mit viel Herzblut trimedial ausgestrahlt wird, positive Auswirkungen auf die Nachfrage hat; immer vorausgesetzt, es ist gut gemacht. Der Erfolg zahlreicher Podcasts zeigt pars pro toto, was möglich ist.

Eine Gefahr für die Literaturvermittlung, auch das wurde diskutiert, liegt in den immer stärker fragmentierten Zielgruppen für Bücher. Gibt es sie überhaupt noch, die „Gemeinschaft der Lesenden“, eine literarische Öffentlichkeit?
Die Kunst heute ist, die interessierte Öffentlichkeit in ihrer jeweiligen Nische, und sei sie noch so klein, passgenau anzusprechen. Leergefegte Straßen wie 1962, als die ganze Nation mitfieberte, wer nun der Halstuch-Mörder war (und Wolfgang Neuss via „Bild“ zum Vaterlandsverräter erklärte, als der vorab den Namen durchstach) wird es nicht mehr geben. Aber die Gruppen Gleichgesinnter, sie sind lebendig wie je und auf digitalem Wege eindeutig gezielter zu erreichen als, beispielsweise, über das literarische Feuilleton einer Tages- oder Wochenzeitung. Dass man sich dabei auch mal der Sprache der „Gleichgesinnten“ befleißigt, halte ich nicht für verwerflich.

Ein glückliches Timing brachte es mit sich, dass Ihre Tagung zugleich der Wiedereinstieg der Branche in „echte“, unvermittelte Begegnungen werden konnte. Wie haben Sie die Stimmung untereinander wahrgenommen?
Entspannt und froh darüber, nach einer langen Durststrecke einander „live“ zu begegnen. Dank eines mobilen Konferenzsystem konnte man in Grüppchen durch den sonnendurchstrahlten Park wandeln und doch den Diskutanten zuhören – was sichtlich der gegenseitigen Zuwendung zuträglich war, ohne der Aufmerksamkeit zu schaden.

Vom sozialen und persönlichen Zugewinn abgesehen: Hätte diese Tagung, wäre sie eine Online-Veranstaltung gewesen, inhaltlich weniger erreicht?
Davon bin ich überzeugt. Wenn vier auf einer Bühne sitzen und ein Moderator mittendrin, entsteht ein gänzlich anderes Spannungsverhältnis; und dann ist da noch das Livepublikum, das sich seinen Reim drauf macht und ordentlich mitmischt. Ob am Handmikrophon oder am Rande der drei, vier Kaffeepausen. Nie waren sie wertvoller, die Pausen, als an diesem Tag eins der Wiederbegegnung.

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