Gastspiel von Katrin Rüger

Von Jugendlichen lernen

2. Oktober 2020
von Börsenblatt

Ein junger Leseclub kann den Arbeitsalltag im Buchhandel verändern. Katrin Rüger hat von ihren "Bücherfressern" in der Corona-Krise viel gelernt – und jetzt ein iPad im Laden.

Ein Leben im Buchpalast ohne meine 20 »Bücherfresser« kann ich mir nicht vorstellen. Selbst wenn in Corona-Zeiten die Gummibärchenvorräte verwaisen, da das Naschen aus einem gemeinsamen Glas zu den neuen Tabus gehört, begleiten sie mich: lesehungrig, meinungsbildend, zukunftsweisend. Als aktuelle Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises ­müssen wir neue Wege zur gemeinsamen Arbeit finden.
Im Lockdown von haptischen Büchern abgeschnitten, haben wir unsere Leseexemplare in eine digitale Bibliothek umgebaut. Für die Vergabe von Bewertungspunkten auf den Buchrücken ist auf unserer Website eine für jeden einsehbare Tabelle entstanden. Auf Smartphone, Reader oder Tablet lesen die Jugendlichen die Bücher jetzt schneller parallel. Diskutiert wird auf allen Kanälen: WhatsApp, E-Mail und am Telefon. Seit Mai in kleinen Gruppen auch wieder im Laden. Fast jeden Tag. Der Leseclub ist in seiner Organisation selbstständig geworden, abends bin ich überrascht, wer vor der Tür steht. Spontaneität hält Einzug. Bei schönem Wetter verlagert sich eine größere Gruppe in den Hinterhof. Einige Bücherfresser schaffen es, sich über den Sommer durch alle 110 bisher zur Verfügung stehenden Titel zu fressen, da plötzlich alles so übersichtlich ist.

Onlinetreffen
Mir scheint es an der Zeit, ihnen zu folgen. Ich schaffe ein iPad für den Laden an, da ich nicht mal ein Smartphone besitze. Auch in der Belletristik erleichtert die Arbeit mit Dropbox und Tablet unsere Vorabplanungen. Die unverlangten Leseexemplarberge vermissen wir kaum. Warum haben wir das nicht schon lange so gemacht?
Die Jugendlichen wünschen sich Zoom-Begegnungen mit Autor*innen. Internationalität ist hier jederzeit und ganz ohne Buchmesse möglich. Ungewohnt diszipliniert diskutieren sie zwei Stunden mit dem Autor Thomas Harding in London über »Future History 2050«. Cosima, 13, leitet die Konferenz, als hätte sie dies schon immer getan.

Neues Medium kennenlernen
Gerade noch trauere ich ein wenig der chaotischen Lebendigkeit vergangener Bücherfresserabende nach, da steht schon die nächste Idee auf der Türschwelle. Das neue iPad hat eine Spielfunktion, die genutzt werden will. Eine gute Kamera, ein großes Display und ein kinderleichtes Filmschnittprogramm. Ehe ich mich versehe, treibt das Krümelmonster sein Unwesen zwischen unseren Regalen. Die Bücherfresser wollen mit ihm Teaser für ihre Interviews drehen.
Ich lerne ein neues Medium kennen, in das ich mich sofort verliebe. Neue Möglichkeiten des Einsatzes werden schnell dingfest gemacht. Das Tablet begleitet uns bei unseren Buchpalast-on-Air-Veranstaltungen. Witzige Werbung für uns und die Bücher entsteht. Wir holen kleine Verlage ins Boot und blättern Kalender für Kund*innen auf. Wir bieten Teilhabe und müssen über uns selbst lachen. Das Kameraauge wird zum Begleiter. Geschnitten wird auf dem Heimweg in der S-Bahn. Ein eigenes Bücherfressermonster ist rechtehalber in Auftrag gegeben. Eine neue Zoom-Begegnung ist in Planung.
Und endlich geht es den Gummibärchen wieder an den Kragen. Mit Mund-Nase-Bedeckung und Gabel füllt der neue Gummitierbeauftragte persönliche Rationen in kleine Trinkbecher. Im Austausch mit Spieldrang, Neugier und Kreativität macht mir der Wandel der Zeit keine Sorge. Wer flexibel in die Zukunft blickt, kann neuen Mut schöpfen. Borgen Sie sich dafür doch einfach mal ein paar Jugendliche aus.

Cosima, 13, leitet die Konferenz, als hätte sie dies schon immer getan.

Katrin Rüger, Buchpalast München

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