INTERVIEW DER WOCHE Lukas Mezger zum 20. Geburtstag von Wikipedia

"Wir müssen unsere Kommunikationskultur verbessern"

5. Februar 2021
von Sabine van Endert

Wikipedia feiert 20. Geburtstag. 2,5 Millionen Artikel hat die Community allein in der deutschsprachigen Ausgabe zusammengetragen. Parallel zum Umfang und der gesellschaftlichen Bedeutung der "freien Enzyklopädie" wächst die Verantwortung. Lukas Mezger, Präsidiumsvorsitzender von Wikimedia Deutschland, über mangelnde Diversität, Nachwuchs und die Umgangsformen der Community.

In Deutschland schreiben etwa 8.500 Ehrenamtliche regelmäßig für Wikipedia, nur zehn Prozent sind Frauen. Haben Sie eine Erklärung für dieses Ungleichgewicht?
Haben Frauen weniger Freizeit, weil sie mehr Care-Arbeit übernehmen? Sind unter den Männern grundsätzlich mehr Besserwisser? Liegt es daran, dass die Wikipedia-Community nicht freundlich genug mit Newcomern umgeht – und Männer mit dem rauen Ton besser umgehen können? Wir wissen es schlicht nicht. Aber wir kennen das Problem, nehmen es ernst und arbeiten daran.

Wie wäre es mit der Einführung einer Frauenquote?
Jeder kann mit einem Klick auf die Schaltfläche "bearbeiten" los schreiben, ohne seinen Klarnamen oder eine E-Mail-Adresse angeben zu müssen. Die Anonymität gehört zum Wikipedia-Prinzip – eine Quote lässt sich damit nicht vereinbaren.

Gibt es gezielte Recruiting-Programme? Wie holt Wikipedia mehr Frauen ins Boot?
Wir arbeiten zum Beispiel daran, die technischen Hürden weiter zu senken. Und wir versuchen, unsere Kommunikationskultur im Umgang miteinander zu verbessern, um es Neulingen einfacher und angenehmer zu machen, dabei zu bleiben. Ich bin selbst ein eher dünnhäutiger Mensch und ich finde, dass es in diesem Bereich einiges zu verbessern gibt. Außerdem stoßen wir gezielte Projekte an, wie zum Beispiel die Aktion "Frauen in Rot", bei der es darum geht, mehr Einträge über Frauen und Frauenthemen zu schreiben. Neben solchen Artikel-Schreib-Aktionen, die wir auch "Editathons" nennen, kümmern wir uns auch um die Vernetzungsarbeit. Jetzt im Januar fand wieder ein Netzwerktreffen für feministische Themen statt.  

In den USA können Studenten an manchen Hochschulen übrigens einen Wikipedia-Artikel statt einer Hausarbeit schreiben, das halte ich für einen tollen Ansatz.

Die Wikipedia-Schreiber sind mittelalt und werden immer älter. Warum machen die Jungen nicht mit?
Nun, es gibt zum Beispiel die Jungwikipedianer, um bei denen mitzumachen, muss man unter 21 sein. Wir gehen auch an Schulen und Universitäten – und treffen dort regelmäßig auf sehr viel Interesse. Mehr als 100.000 Leute registrieren sich pro Jahr bei Wikipedia, aber nur wenige bleiben dauerhaft dabei. In den USA können Studenten an manchen Hochschulen übrigens einen Wikipedia-Artikel statt einer Hausarbeit schreiben, das halte ich für einen tollen Ansatz.

Zum Problem der Diversität auf allen Ebenen kommt ein weiteres – die langsame "Verwahrlosung" des rasant wachsenden Lexikons. Neue Artikel anzulegen macht wohl mehr Spaß, als alte Beiträge zu aktualisieren.
Sie beschreiben das Problem richtig. Mittlerweile umfasst Wikipedia 2,5 Millionen Artikel. Die Hauptaufgabe der Wikipedia-Community besteht mittlerweile aus dem, was wir "Hausmeistertätigkeit" nennen – Quellen aktualisieren, Fakten ergänzen, Anpassung der Beiträge an den aktuellen Stand der Wissenschaft, bessere Vernetzung der Artikel und so weiter. Wir müssen genug Leute finden, die diese Aufgaben übernehmen, damit steht und fällt der langfristige Erfolg von Wikipedia.

Wikipedia ist zur selbstverständlichen gesellschaftlichen Ressource geworden, nach 20 Jahren vergisst man schon mal, dass alle Texte von Ehrenamtlichen geschrieben sind. Wie schnell ist man drin in der Community und kann sich für die langjährige Nutzung revanchieren?
Wie gesagt, eigentlich muss man dazu nur in den Bearbeitungsmodus wechseln und kann sofort loslegen. Allerdings müssen Änderungen von Neulingen noch von einem der 20.000 sogenannten "Sichter" der deutschen Wikipedia freigegeben werden. Das funktioniert bei populären Artikeln in der Regel sehr schnell, bei exotischeren Themen können dafür schon mal bis zu 10 Tagen vergehen. Aber wenn Sie erstmal 50 Änderungen durchgebracht haben, ist eine solche Sichtung nicht mehr nötig. 40.000 Leute haben diesen Status.

Der wichtigste Grundsatz ist: Was in Wikipedia steht, muss mit belastbaren Quellen belegt sein.

Gerade hat das Landgericht Koblenz einen langjährigen Wikipedia-Autor verurteilt, 8000 Euro Schadensersatz an einen isländischen Komponisten zu zahlen. Wer hat da versagt? Wie ist die Haftungsfrage geregelt?
Wer im Internet Ehrverletzendes oder Unwahres verbreitet, kann auf Unterlassung verklagt werden, von dieser Regel sind Wikipedia-Autoren nicht ausgenommen. Wikimedia Deutschland versucht, die Wikipedia-Community dabei zu beraten, nicht in eine solche Situation zu geraten. Bisweilen wird unser Rat angenommen, aber nicht immer.

Wie häufig werden Artikel abgelehnt?
Der wichtigste Grundsatz ist: Was in Wikipedia steht, muss mit belastbaren Quellen belegt sein. Einträge über Unternehmen, Personen oder Ereignisse müssen außerdem bestimmte Relevanzkriterien erfüllen, um aufgenommen zu werden. Jeden Tag fallen Dutzende neue Einträge durchs Raster, die diese Kriterien nicht erfüllen. Dieses "Unkraut jäten" gehört zu unseren typischen Hausmeistertätigkeiten. Im Zweifelsfall wird in der Community diskutiert, teilweise auch sehr lebhaft, wie zum Beispiel im vergangenen Jahr über einen Eintrag mit einer Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen.

Die meisten Qualitätsmedien stellen ihre Inhalte mittlerweile hinter Bezahlschranken. Ist das ein Problem?
Bei den in der Wikipedia genutzten Quellen machen wir keinen Unterschied zwischen frei zugänglichen und kostenpflichtigen Angeboten. Auch Bücher sind als Nachweise natürlich gern gesehen, auch wenn man zum Überprüfen einer Information erst einmal in die Bibliothek gehen muss. Eine Reihe von Datenbankanbietern und Medienhäusern stellen der Wikipedia-Community über die "Wikipedia Library" übrigens eine gewisse Anzahl kostenloser Accounts für ihre Arbeit zur Verfügung.  

Der eigentliche Antrieb ist Idealismus für unser Anliegen, das freie Wissen, oder eben der Spaß an einem Spezialthema.

2006 erschien die letzte Ausgabe der gedruckten Brockhaus Enzyklopädie, noch existierende Online-Lexika führen neben Wikipedia ein Schattendasein. Gibt es Kooperationen mit den verbliebenen Enzyklopädien? Wird in die Richtung gedacht?
Es gibt in der deutschsprachigen Wikipedia Einträge, die auf alten Meyers-Artikeln beruhen, für die das Urheberrecht abgelaufen ist. Außerdem arbeiten wir wie erwähnt teilweise mit Fachlexika zusammen. Weiter gehende Kooperationsbestrebungen gibt es mit den verbliebenen Online-Lexika nicht.

Medizin, Forschung, Wissenschaft: Gibt es Bereiche, in denen Wikipedia die Beiträge namentlich genannter Experten doch nötig hätte?
Wikipedia ersetzt solche Beiträge nicht! Wikipedia bietet – wie alle klassischen Lexika – einen Einstieg in ein Thema, inklusive Verweise auf Quellen für alle, die mehr wissen wollen. Wir wollen den Konsens dessen abbilden, was sich in renommierten journalistischen oder wissenschaftlichen Quellen findet.

Wer für Wikipedia schreibt, macht das unbezahlt und anonym. Dazu kommt, dass die "eigenen" Artikel ständig von anderen verändert werden. Welche Anreize gibt es?
Wir verleihen tatsächlich diverse "Orden" und Preise, die Wiki-Eule zum Beispiel, die auf der jährlichen Community-Konferenz verliehen wird. Aber der eigentliche Antrieb ist Idealismus für unser Anliegen, das freie Wissen, oder eben der Spaß an einem Spezialthema, Segelschiffe der niederländischen Handelsmarine zum Beispiel, an dem dann viele mitarbeiten.  

Und zum Schluss: Welchen Beitrag haben Sie zuletzt für Wikipedia geschrieben?
Ich habe einen Artikel zu Leonie Bremer angelegt, eine deutsche Klimaschutzaktivistin, mit der ich über einen persönlichen Kontakt in Berührung kam. Zusammen mit meinem Vater, einem Arzt, ist außerdem der Eintrag "nukleosid-modifizierte mRNA" entstanden, da geht es um die Technologie hinter dem Corona-Impfstoff. Dieser Artikel ist mittlerweile von anderen auf Englisch, Vietnamesisch, Thailändisch und Japanisch übersetzt worden – es ist immer beeindruckend, so etwas zu sehen.

Über Lukas Mezger

Lukas Mezger, 34, ist seit 2005 Wikipedia-Autor und schreibt über vor allem über Musiktheorie und juristische Themen. 2018 hat er nach vier Jahren als Beisitzer das Amt des Präsidiumsvorsitzenden von Wikimedia Deutschland e.V. übernommen. Lukas Mezger ist hauptberuflich Rechtsanwalt für Medien- und IT-Recht in Hamburg.