Deutscher Buchpreis für Kim de l'Horizon: Medienecho

Der Rainald-Goetz-Moment

18. Oktober 2022
von Börsenblatt

Kaum war der Deutsche Buchpreis 2022 an Kim de l'Horizon vergeben, gab es schon erste Pressereaktionen. Und es wurde an einen Moment der jüngeren Literaturgeschichte erinnert, der sich bis heute ins Gedächtnis eingegraben hat.

Denn es war vor allem die Dankes-Performance von Kim de l'Horizon, die das Publikum und auch Andreas Platthaus von der "FAZ" beeindruckte. Rainald Goetz, der sich 1983 beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb zum Vortrag seines Textes "Subito" die Stirn aufritzte, sei durch Kim de l'Horizon abgelöst worden, so Platthaus – mit einem Song und der radikalen Geste, sich die Kopfhaare abzurasieren.

Die Verneinung einer jeden Geschlechterrolle durch Entledigung körperlicher Schönheitsattribute sei konsequent angesichts des schmerzvollen Inhalts von "Blutbuch", einem Roman, der die Behauptung eines ebenfalls nichtbinären Erzählers gegen die gesellschaftlichen Erwartungen zum Gegenstand hat, so Platthaus. "Es ist ein eindrucksvolles Buch, auch weil darin in der Familie der notwendige Rückhalt für den radikalen Bruch gefunden wird."

Dass die Geste des Kopfscherens auch bei anderen Journalisten den Rainald-Goetz-Moment wie einen Erinnerungsflash aufblitzen ließ, verwundert nicht. In der "Welt" wird der Moment geschildert, in dem Kim de l'Horizon sagt "Dieser Preis ist nicht für mich", den Rasierapparat zückt und beim Wegscheren der Haare fortfährt: Der Preis sei auch ein "Zeichen gegen den Hass, für die Liebe” und der Solidarität für die Frauen in Iran, was die Veranstaltung endgültig zu einer politischen
Demonstration mache. Dann werde noch der Irrtum erwähnt, "dass wir alle gedacht hätten, Weiblichkeit sei nur im Westen emanzipiert". "Das war so etwas wie der Rainald-Goetz-Moment der neuen engagierten (manche sagen "aktivistischen") Literatur", heißt es im "Welt"-Artikel.

"Überdeutlichkeit der politischen Statements"

Marie Schmidt geht in ihrem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" auf den Aspekt der Vielfalt ein, der schon in den Vorreden beschworen worden sei. In dieser Hinsicht lasse der Preis keine Wünsche offen: "Die Vielfalt der in den nominierten Romanen zur Sprache kommenden Erfahrungen, für die denn auch passende literarische Formen gefunden worden seien, wie die Jurysprecherin Miriam Zeh sagte, drückte sich unmittelbar in der Vielzahl der Symbole, Affekte und Gesten aus, die Kim de l’Horizon in Anschlag brachte." Gesten, denen wohl alle Anwesenden und Zuschauerinnen zustimmen konnten, so Schmidt. "Wenn sich nicht womöglich doch die eine oder der andere wegen der Überdeutlichkeit der politischen Statements unwohl fühlte."

"Was braucht es ein spanisches Königspaar?"

Gerrit Bartels geht in seinem "Tagesspiegel"-Beitrag auf den "Glam"-Faktor der Buchpreisverleihung ein, würdigt die Garderobe einiger Shortlist-Autor:innen und arbeitet sich genüsslich an Kim de l'Horizons Kostüm ab ("grüner Federboa-artiger Brustpuschel und dunkelgrünsilbrig schimmernder Rock"), um mit der rhetorischen Frage zu schließen: "Was braucht es da ein spanisches Königspaar bei der Eröffnung am kommenden Eröffnungstag?" Bartels' Beitrag endet nachdenklich: "Ohne eine entscheidende, über sich selbst weisende Botschaft hat die Literatur es heutzutage leider schwer."

Nicht das ideale Weihnachtsgeschenk

Dierk Wolters thematisiert in seinem Beitrag für die "Frankfurter Neue Presse" neben literarischem Lob die Verkäuflichkeit und Geschenkqualität des Preisträgerbuchs: Das "In-sich-Kreisen des Texts" sei literarisch avanciert und mutig. "Damit wendet sich der queere Autor ab von einer plothaften Erzählweise, die mehr oder weniger pfeilgerade von einem Anfang auf ein Ende zusteuert, hin zu einer, wie er auch literaturtheoretisch begründet, eher weiblichen Form. Viel mutet das Buch seinen Lesern dabei zu - zu viel vielleicht, um hübsch verpackt unter vielen Weihnachtsbäumen zu landen." Das wäre hingegen Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" und "Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher zu gönnen.