Interview mit der Bestseller-Autorin

Donna Leon: "Tief beunruhigt über das, was mit Venedig passiert"

1. Juli 2021
von Michael Roesler-Graichen

Einer der bekanntesten Orte der Kriminalliteratur ist das Venedig von Donna Leon. In 30 Fällen hat ihr Held Guido Brunetti in der Lagune bereits ermittelt. Die Bestsellerautorin über Gewalt und Leidenschaft – und eine reale Stadt, die ihre Identität zu verlieren droht.

Seit fast 30 Jahren haben Sie mit Ihren Brunetti-Romanen – zuletzt »Flüchtiges Begehren« – eine Welt von Verbrechen und Kultur, von Mythen und historischen Fakten erkundet – in einem Mikrokosmos, der einzigartig ist auf der Welt. Warum fiel Ihre Wahl auf Venedig?
Als ich die Idee hatte, einen Roman zu schreiben, beschloss ich, ihn in Venedig anzusiedeln, weil dies der einzige Ort war, an dem ich als Erwachsene für mehr als nur einige Jahre gelebt hatte. Es war der einzige Ort, den ich gut genug kannte, um über ihn schreiben zu können.

Anders als die meisten Krimihelden lebt Ihr Hauptprotagonist in einer vollständigen, intakten Familie. Die Dynamik des Familienlebens ist zudem Teil der Romane. Fühlen Sie sich manchmal selbst wie ein Mitglied dieser Familie?
Nein, ich bin eine Beobachterin seiner Familie, wie ich auch eine Beobachterin aller Figuren bin. Die Erzählerin hat Zugang zu Brunettis Gedanken, nicht zu denen der anderen – normalerweise, manchmal schummle ich auch dabei.

Die Figuren Ihrer Romane sind von Leidenschaften und Lastern getrieben, aber ebenso von Korruption und organisiertem Verbrechen. Ist das Venedig in Ihrem Werk ein Spiegel der menschlichen Tragikomödie? 
Nun, ich denke, dass ein Kriminalroman Verbrechen präsentieren muss, und das bedeutet Verbrecher. Ich vermute, dass die Proportion von kriminellen zu anständigen, ehrlichen Personen in Kriminalromanen wesentlich höher ist als in der übrigen Gesellschaft. Venedig ist eine Stadt, die praktisch frei von Gewaltverbrechen ist.

Sie haben eine lange Zeit in Venedig gelebt und besuchen die Lagunenstadt oft. Beklagen Sie manchmal den Gesichtsverlust der Stadt, die durch Übertourismus und Kreuzfahrtschiffe verschandelt wird?
Ich glaube, dass jede Person mit einem Sinn für Schönheit tief beunruhigt über das ist, was mit Venedig passiert. Der Tourismus – die Kreuzfahrtschiffe eingeschlossen – hat die Stadt bereits zum Schlechteren verändert; der Tourismus könnte sie sogar zerstören.

Wird die Kluft zwischen dem wirklichen und dem fiktiven Venedig immer größer?
Ich halte es für zutreffender zu sagen, dass die Stadt durch die Veränderungen, die ihr angetan werden, weniger schön und vulgärer wird. Zudem werden die Einwohner Venedigs allmählich gezwungen, ihre Häuser aufzugeben und aus der Stadt herauszuziehen. Ich glaube, dass das fiktive Venedig – die meisten meiner Bücher wurden vor vielen Jahren geschrieben – schöner ist. 

In Ihrem jüngsten Roman bei Diogenes arbeitet Guido Brunetti mit seiner Kollegin aus Neapel, Claudia Griffoni, zusammen, die dem Lesepublikum nicht zum ersten Mal begegnet. Ist es ein Zugeständnis an mehr Geschlechtergerechtigkeit, dass Frauen mehr Einfluss in der Handlung Ihrer Romane bekommen?
Nicht, weil ich die Absicht hätte. Ich schreibe Romanliteratur, deshalb ist es nicht meine Aufgabe, für irgendeine gute Sache zu predigen – unabhängig davon, welche persönlichen Einstellungen ich habe. In der Polizei sind erheblich mehr Männer tätig als Frauen.

Wenn man Ihre Brunetti-Romane liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sie jede Ecke und jedes Geheimnis der Serenissima kennen. Gibt es einen weißen Fleck auf Ihrem inneren Venedig-Plan, den Sie gerne mit Farbe füllen würden?
Ich würde nie vorgeben wollen, jede Ecke zu kennen, denn das tue ich nicht. Meine venezianischen Freunde hingegen schon. Ich würde gern mehr Zeit in der Lagune verbringen, und ich hätte gern ein klareres Bild der Geographie von Castello.

Ein Schlüsselerlebnis im Gran Teatro la Fenice di Venezia war die Initialzündung für Ihr Schreiben. Was bedeutet Ihnen die Oper?
Ich glaube, dass die Oper, speziell diejenige der Barockzeit, eine der höchsten Schöpfungen der westlichen Kultur ist.

Haben Sie jemals mit dem Gedanken geliebäugelt, eine neuen Charakter für eine Serie von Kriminalromanen zu erschaffen, die keine Parallelen zur Brunetti-Welt hat?
Bis ich Zeit dafür finde, sehe ich keine Möglichkeit.

 

Mehr zum Thema Krimi lesen Sie in unserem Spezial Krimi & Thriller, das am 1. Juli 2021 erschienen ist.

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