Wenn es ein Gebäude gibt, in dem sich die letzten gut hundert Jahre deutscher Geschichte spiegeln, dann ist es der Volkspark in Halle/Saale. 1903 wurde die Kultur- und Bildungsstätte hallescher Arbeiter eingeweiht; das Proletariat hatte sich von den Arbeiter-Groschen einen Prachtbau hingesetzt, der die Villen der Reichen überragte. Im Wechsel der Zeiten wurde das Arbeiterheim zum Lazarett, später zum Treffpunkt der Nazis, in der DDR war es Heimstatt diverser "Volkskunst-Kollektive" und wurde von der SED für Großveranstaltungen genutzt.
Am letzten Wochenende war der einstige Arbeiter-Palast Schauplatz des großen Finales des WIR-Festivals, einer Initiative, mit der sich die Zivilgesellschaft in Halle gegen die am 8./9. November Büchermesse SeitenWechsel abgrenzen wollte. Wie schwierig Grenzziehungen sind, zeigt nicht nur die Geschichte des Hauses am Schleifweg, sondern gleich die erste Lesung des Festival-Finales mit Matthias Brenner. Der Schauspieler, Regisseur und langjährige Intendant des Neuen Theaters suchte sich Ernst Ottwalts Roman "Ruhe und Ordnung" heraus, 1929 im Malik Verlag erschienen und im gleichen Jahr als eines der "Schönsten deutschen Bücher" prämiert. Ottwalt hatte als Freikorpskämpfer auf die Republik eingeschlagen, konvertierte zum Kommunismus, schrieb mit Brecht das Drehbuch zum Film-Klassiker "Kuhle Wampe", ging ins Moskauer Exil und verschwand in Stalins Gulag. Ein schmissiger Roman, den man nicht nur mit einem aktuellen Stadtplan von Halle lesen kann, sondern einer, der quasi in der Innenschau zeigt, wie eine militant-nationalistische Geisteshaltung entsteht. Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff, der mit Heike Haupt und Peter Gerlach (Hasenverlag Halle) vom Landesverband SaSaThü gekommen war, zitierte in seinem Grußwort einen Satz des Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel: "Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit." Gerade weil der Börsenverein 1933 nicht im Sinne de Toquevilles für Demokratie stritt, sondern sich den neuen Machthabern andiente und willfährig gleichschalten ließ, so Kraus vom Cleff, setzt er sich heute für eine vielfältige und offene Gesellschaft ein – auch in Halle.