Interview mit Jürgen Wertheimer zu Projekt Cassandra

"Literatur operiert näher an der Wirklichkeit, als man glaubt"

21. Februar 2023
von Michael Roesler-Graichen

Literarische Texte als Frühwarnsystem für politische und militärische Gefährdungslagen nutzen – darum geht es beim Projekt Cassandra am Tübinger Weltethos-Institut. Teamleiter Professor Jürgen Wertheimer über Methodik und Ziele des Projekts. 

Jürgen Wertheimer

Im Projekt Cassandra loten Sie literarische Texte aus, um sie als Frühwarnsystem für politische oder militärische Katastrophen und Gefahrenlagen zu nutzen. Wird Literatur auf diese Weise nicht instrumentalisiert?
Nein, sie wird  nicht "instrumentalisiert", sie wird lediglich genau gelesen – und was sie an Erkenntnissen zu fördern imstande ist, wird genutzt und benutzt. Literarische Texte sind nicht so abgehoben, als dass man ihren Bezug zur Realität nicht wahrnehmen und benutzen dürfte. Im Rahmen des Projekts Cassandra dient sie keinesfalls ideologischen Zwecken. Sondern es geht im Gegenteil darum, Stimmen der Literatur aufzunehmen, um ideologische Tendenzen zu demaskieren. Literarische Texte wie beispielsweise die Romane Herta Müllers oder Juli Zehs enthalten Indikatoren und selbst noch im Subtext wertvolle Nuancen, die auf sich anbahnende tiefgreifende Veränderungen verweisen.

Bis 2020 wurde das Projekt vom Bundesministerium der Verteidigung gefördert. Wie war die Zusammenarbeit?
Erstaunlich unproblematisch und in mehrfacher Hinsicht interessant. Wir hatten zuvor auch andere Ministerien angeschrieben, darunter das Bundeskulturministerium und das Auswärtige Amt. Dort teilte man uns mit, dass man bei Gefährdungsanalysen ganz auf Big Data umgestellt habe. Im Verteidigungsministerium haben wir mit der Abteilung für Politik gute Erfahrungen gemacht und hatten es auch mit literaturaffinen Beamten zu tun. Dort hat man die Bedeutung unseres Anliegens verstanden und unsere halbjährlichen Berichte interessiert gelesen.

Was ist aus der Lektüre gefolgt?
Nicht genug. Das Ziel von Cassandra ist es, auf der Grundlage von Textanalysen mögliche Gefährdungslagen zu erkennen und bereits im Vorfeld zu agieren. Wenn man sich die geopolitischen Ereignisse der beiden letzten Jahre betrachtet – Stichwort Afghanistan, Stichwort Ukraine – dann kann man nur feststellen, dass in beiden Fällen KI-gestützte Prognosen den Fall von Kabul beziehungsweise den Angriff auf die Ukraine nicht vorhersagen konnten. Neben quantitativen Daten kommt es eben auch darauf an, menschliche Intelligenz, wie sie sich in literarischen Texten manifestiert, zu nutzen. Literatur operiert sehr viel näher an der Wirklichkeit als man gemeinhin glaubt, sie kann Dinge auf der einen Seite subtiler, auf der anderen aber auch schamloser und unverhüllt darstellen.

Wenn man sich die geopolitischen Ereignisse der beiden letzten Jahre betrachtet, dann kann man nur feststellen, dass in beiden Fällen KI-gestützte Prognosen den Fall von Kabul beziehungsweise den Angriff auf die Ukraine nicht vorhersagen konnten.

Jürgen Wertheimer

Welche Methode wenden Sie bei der Textanalyse an?
Wir betrachten jeden Text unter insgesamt zwölf verschiedenen Gesichtspunkten: etwa der Erzählperspektive, der Art der Figurenrede, der Darstellung von Emotionen, unterschwelligen Botschaften, semantischen Bezügen und Konnotationen sowie ironischen Wendungen. Jedem Frage-Gebiet legen wir bis zu 100 Bücher zugrunde. Aus den Ergebnissen leiten wir Thesen ab, die anschließend quantifiziert werden können.

In einem zweiten Projekt namens Minerva versuchen Sie, gesellschaftliche Verwerfungen und Stimmungslagen anhand von Textanalysen aufzuspüren. Worum geht es da?
Beispielsweise um den Stand der Wiedervereinigung oder um die Folgen des Technologiewandels im Ruhrgebiet.

Gibt es literarische Genres, die für Cassandra und Minerva prädestiniert sind?
Man denkt vielleicht zuerst an Science-Fiction-Romane mit ihrer oft sehr realistischen Prognostik, aber auch schon ein Liebesroman wie Goethes "Werther" enthält in seiner Tiefenstruktur die Botschaft, dass die Biografie des Helden an den Normen einer perfektionierten aufgeklärten Gesellschaft zerbricht. Aus dem provinziellen Ereignis wird eine Geschichte mit großer Tragweite. In der deutschen Gegenwartsliteratur würde ich Juli Zeh nennen, deren Romane zugleich eine Ethnographie der Befindlichkeit von Menschen sind, etwa in den Braunkohlerevieren der Lausitz. Indikatoren für ein verändertes Lebensgefühl findet man aber auch schon in Kinderbüchern.

Wie soll es mit dem Projekt Cassandra weitergehen, nachdem der Bund die Finanzierung beendet hat?
Hier in Tübingen haben wir in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kognitionswissenschaft einige Versuche gemacht. Interessant wäre für uns ein Partner aus der Software-Industrie, der in der Lage ist, größere Datenmengen auszuwerten. Und die Erfahrung hat mich gelehrt – es bedarf einer solchen "Wucht", um die Wachsschicht auf den Ohren der Entscheidungsträger zu durchdringen!