Deutscher Buchpreis

Antje Rávik Strubel gewinnt

18. Oktober 2021
von Börsenblatt

Um 18.50 Uhr wird die Entscheidung der siebenköpfigen Jury im Frankfurter Kaisersaal bekanntgegeben: Den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis 2021 hat Antje Rávik Strubel für ihren Roman "Blaue Frau" (S. Fischer) erhalten.

Begründung der Jury

"Mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision schildert Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Schicht um Schicht legt der aufwühlende Roman das Geschehene frei", las Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs die Begründung der Jury vor. "Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern. In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen. Im Dialog mit der mythischen Figur der Blauen Frau verdichtet die Erzählerin ihre eingreifende Poetik: Literatur als fragile Gegenmacht, die sich Unrecht und Gewalt aller Verzweiflung zum Trotz entgegenstellt."

Dank von Antje Rávik Strubel

"Ich bin sehr überwältigt, sprachlos und freue mich riesig!", sagte die Autorin und dankte auch der verstorbenen Autorin Silvia Bovenschen, die sie immer wieder zum Schreiben ermutigte und der dieser Roman gewidmet sei. "Ich hätte am liebsten ein paar Worte einfach nur über Sprache gesagt, also Sprache als ästhetischer Spielplatz, als etwas, das für uns alle, die wir schreiben, so elementar ist. Für Lucia Berlin war ein Satz die Brücke über den Abgrund, für mich ist Sprache ein Ort des Berauscht- und Entrücktseins, aber auch Irritation und Wagnis. Aber sobald ich anfange, darüber nachzudenken, übertönt mich Gezerre und Gezeter, und ich lande mitten in einem furchtbaren Krieg, dem Krieg, der heute verbissen um Benennungen und Bezeichnungen geführt wird – also eben auch darüber, wer wir sein dürfen und wer das Sagen darüber hat. Und der mit einem Hass geführt wird, der total befremdlich und bedrohlich ist, andererseits aber auch schrecklich normal. Kriege wurden schon aus geringfügigeren Anlässen geführt.

Ich schreibe seit Jahren Figuren, die dem, was allgemein als normal und oder als selbstverständlich gilt, ganz selbstverständlich widerstehen, die eher auf die Schlupflöcher in dieser Normalität verweisen – oder sollen wir Norm sagen? – weil sie keine Möglichkeit oder kein Interesse haben, diese für sich zu beanspruchen. Weil diese Normalität nur deshalb normal ist, weil sie da ist – und nicht etwa, weil sie gut ist. Einige der weniger subtilen Strategien zur Sicherung dieser Bastionen ist ja das Bashing einer Haltung, die sich weigert, länger mit dem üblichen „Jetzt hab dich nicht so!“ oder „Stell dich nicht so an!“ auf die strukturelle Erfahrung von Demütigung, Gewalt oder bloß Ignoranz zu reagieren. Also das Bashing von – jetzt hätte ich fast „politische Korrektheit“ gesagt. Ein schmutziger Begriff, so schmutzig wie es bis vor kurzem auch das Wort Feministin noch war. Schon übrigens für Virginia Woolf, für sie war das ein korruptes Wort, das nur noch dazu diene, diejenigen auszuschließen und zu demütigen, die es einmal bezeichnet habe. Solche Worte, schreibt Woolf, werden von Klingel-an-der-Tür-und-renn-weg-Männern zum Verunglimpfen benutzt. Vielleicht kommt Ihnen die Beobachtung ja auch irritierend bekannt vor – das Internet ist voller Klingel-an-der-Tür-und-renn-weg-Männern. Gefährlich wird es dann, wenn sie das Ende ihrer jahrhundertealten Meinungshoheit zum Ende der Meinungsfreiheit erklären. Aber ist es denn nicht selbstverständlich, dass man mit dem Namen angesprochen werden möchte, unter dem man sich auch angesprochen fühlt? Für die, die am lautesten sind – war das für die nicht immer selbstverständlich?

Vielleicht ist es ja zu einfach. Wir werden misstrauisch, wenn die Dinge einfach sind: Kann es wirklich so sein? „Vielleicht muss das Selbstverständliche erst wieder unverständlich werden, um selbstverständlich zu bleiben“: Das ist ein Satz von Ilse Aichinger, der mich auch daran erinnert, dass Sprache beweglicher ist und wandelbarer als wir in unseren Gewohnheiten – obwohl wir sie ja angeblich erfunden haben. An dieser Wandelbarkeit jedenfalls hab‘ ich Freude, an einer Sprache, in der Spielen ausdrücklich erwünscht ist, die ins Stolpern kommen darf und Ungesichertes aushält. Und bei aller Freude am sprachlichen Wagnis, am beweglichen Wort ist eines sonnenklar: Rávik und ich sind Schriftstellerinnen, nicht Schriftsteller, und als solche manchmal ausgezeichnet mit einem Sternchen.“

Spannung im Kaisersaal

Mit jedem weiteren Ins-Gedächtnis-Rufen der nominierten Romane und kleinen Enspielungen war zuvor die Spannung im Kaisersaal gestiegen. Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig, von Haus aus Literaturkritikerin, war zu Beginn der Veranstaltung nach den aktuellen Themen gefragt worden: "Ich habe mich immer schon gegen eine Fixierung auf Themen gewehrt - letztlich geht es darum, welche Perspektiven Bücher einnehmen. Die Literatur kann sich auf bestimmte Themen stürzen, aber sie muss es nicht." Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs konstatierte, dass es trotz der Pandemie weiterhin tolle Bücher gegeben habe, "197 Bücher wurden eingereicht, es gab eine kompetente Jury für den Deutsche Buchpreis, die engagiert diskutiert hat und gestern sinnbildlich nassgeschwitzt aus dem Raum kam" - und die Literatur habe weiterhin viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren dürfen.

Den Vorsitzenden der Jury, Knut Cordsen, hat überrascht, wie viele Debüts für den Deutschen Buchpreis eingereicht worden sind. Auf die Frage, warum es derzeit so viele autofiktionale Zugänge in der Gegenwartsliteratur gibt, hatte auch er keine Antwort. Die unterschiedlichen Blickwinkel, mit denen die Jurorinnen urteilten, seien immer wieder bereichernd - "Diversität bedeutet Vielfalt auch der Sichtweisen, da bekommen wir Jahr für Jahr einen großen Reichtum an deutschsprachigen Novitäten geboten."

Nominiert waren neben der Buchpreisträgerin in diesem Jahr

  • Norbert Gstrein: Der zweite Jakob (Hanser)
  • Monika Helfer: Vati (Hanser)
  • Christian Kracht: Eurotrash (Kiepenheuer & Witsch)
  • Thomas Kunst: Zandschower Klinken (Suhrkamp)
  • Mithu Sanyal: Identitti (Hanser)


Sie erhalten als Finalisten jeweils 2.500 Euro.

Veranstaltungen mit Antje Rávik Strubel auf der Frankfurter Buchmesse

Mittwoch, 20.Oktober, 11 Uhr:
Gespräch auf dem Blauen Sofa (Livestream auf zdf.de)

Mittwoch, 20.Oktober, 13.30 Uhr
Gespräch auf der ARD-Bühne (Livestream auf buchmesse.ARD.de, danach in der ARD-Mediathek)

Freitag, 22. Oktober, 20 Uhr:
Auftritt bei der ARD-Buchmessenacht (Livestream auf buchmesse.ARD.de, danach in der ARD-Mediathek)

Samstag, 23. Oktober, 10.25 Uhr:
Börsenblatt-Gespräch im Frankfurt Studio Festival (Liveübertragung auf facebook.com/buchjournal