Gespräch mit Friedenspreisträger Serhij Zhadan

Claudia Roth: "Dieser Krieg ist ein Krieg gegen die Kultur"

22. Oktober 2022
von Börsenblatt

Vor mehr als 140 Zuhörer:innen diskutierten Serhij Zhadan, Eva Menasse, Deniz Yücel und Kulturstaatsministerin Claudia Roth über die Bedrohung der ukrainischen Literatur und der Menschen: "Wenn die Ukraine verliert, dann wird es morgen keine ukrainische Literatur und keine ukrainische Musik mehr geben," konstatierte Zhadan.

Claudia Roth und Serhij Zhadan 

"Wir müssen wissen, was in der Nacht passiert ist"

Während die ukrainische First Lady Olena Selenska noch im Saal Europa sprach, debattierte am Stand von Azubistro und Studium rund fürs Buch das Podium über Literatur und Krieg. "Es ist schrecklich, heute hat Russland wieder Charkiw beschossen", antwortete Serhij Zhadan auf die Frage von PEN Berlin-Sprecher Deniz Yücel, der die Gesprächsrunde moderierte. "Jeder Tag beginnt für uns Ukrainer mit den Nachrichten - wir müssen wissen, was in der Nacht passiert ist." Auch Juri Durkot, Übersetzer von Zhadans Büchern, der in Lemberg wohnt, berichtete von der allgegenwärtigen Bedrohung: Zwar sei die Lage am westlichen Rand der Ukraine anders, aber nicht weniger ungefährlich. "Anfang der Woche hatten wir einen Angriff, bei dem ein Umspannwerk zerstört wurde, wir hatten keinen, Strom, kein Internet usw." Zhadan hatte vor kurzem in Lemberg mit seiner Tochter einen Kinobesuch geplant; "dann kam mitten in der Vorstellung ein Luftangriff und alle Kinobesucher sind in ein unterirdisches Parkhaus geflüchtet. Auf den ersten Blick scheint Lemberg eine friedliche Stadt, die Geschäfte haben geöffnet - aber dann kommt ein Angriff und alle müssen sich verstecken."

Eva Menasse, Claudia Roth, Serhij Zhadan., Juri Durkot, Denis Yücel

"Heute sind wir zuerst Bürger der Ukraine und erst danach Schriftsteller"

Wie der Krieg die Rolle der Künstler:innen verändere, fragte Yücel, ob der Moment gekommen sei, wo die Literatur beginne, Waffen zu organisieren. "Sicher, es hat sich geändert", befand Friedenspreisträger Serhij Zhadan, der mit seiner Familie in Charkiw nahe an der Front lebt. "Heute sind wir zuerst Bürger der Ukraine und erst danach Schriftsteller, Schauspieler etc. Wir befinden uns alle im Krieg - unabhängig davon, welche Position der Einzelne vertritt." Es sei schrecklich, wenn Dichter und Musiker gezwungen seien, mit Waffen in den Krieg zu ziehen. "Aber viel schlimmer ist es, wenn der Krieg in dein Land kommt und Dichter und Musiker so tun würden, als ob sie damit nichts zu tun hätten. Wenn die Ukraine verliert, dann wird es morgen keine ukrainische Literatur und keine ukrainische Musik mehr geben." Die Kultur in Zeiten des Krieges sei ein wichtiges Thema für die Künstler, es sei eine existenzielle Frage. Die ganze Zeit gebe es in Charkiw abends kulturelle Veranstaltungen - "aber sie finden in Luftschutzkellern statt. Dennoch sind sie wichtig, für die Soldaten wie für die Zivilisten."

"Es ist ein Prozess der Entukrainisierung"

Wie sich Zhadan in der Ukraine engagiere, sei wichtig auch für die Literatur, sagte Schriftstellerin Eva Menasse, und Kulturstaatsministerin Claudia Roth berichtete von ihrem Besuch in Odessa: "Ukrainische Künstler haben mir dort gesagt: Gebt uns eine Stimme, denn Putin behauptet, es gebe die ukrainische Nation gar nicht." Wenn mehr als 500 Konzertsäle, Theater und Bibliotheken inzwischen angegriffen und zerstört worden seien, dann sei klar, dass die ukrainische Kultur ausgelöscht werden solle: "Dieser Krieg ist ein Krieg gegen die Kultur." Die Leiterin der großen Bibliothek in Odessa habe ihr unter Tränen gesagt: "Wie soll ich die fünf Millionen Bücher beschützen? Wenn sie zerstört sind, dann ist nichts mehr da, was auf uns hinweist."

"Ich habe gesehen, wie russische Soldaten nach der Eroberung von Städten sich daran gemacht haben, ukrainische Bücher zu verbrennen", berichtete Zhadan. Es sei in der Tat ein Prozess der Entukrainisierung; ein Land versuche, ein anderes Land auszulöschen, pflichtete Zhadan Roth bei. "Es geht nicht darum, Städte zu erobern, die Russen verlassen sie dann wieder. Es geht ihnen darum, sie zu vernichten." In den besetzten Gebieten würden Kindern russische Schulprogramme in russischer Sprache aufgezwungen.

Die Kulturstaatsministerin hört Serhij Zhadan zu 

"Wir werden ukrainische Bücher ins Deutsche übersetzen"

"Damit sie nicht in Vergessenheit geraten, damit sie weiter präsent sind, werden wir ukrainische Bücher ins Deutsche übersetzen," versprach die Kulturstaatsministerin und wies daraufhin, dass man in Deutschland noch viel zu wenig ukrainische Literatur kenne.

Wenn man über Literatur und Krieg schreibe oder spreche, fielen oft bestimmte Autorennamen, aber das sei ein kleiner Kreis, Remarque, Zweig, Hemingway etc., meinte Zhadan. Er wies auf polnische Schriftsteller hin, die über die Erfahrungen des Kriegs geschrieben haben, etwa über den Warschauer Aufstand in Tagebuchform, sehr emotionaler Texte - "der Erzähler befindet sich mitten unter den Aufständischen, das ist ein Antikriegsbuch. Wenn ein Autor auf der Seite der Angegriffenen ist, ist das eine ganz andere Sichtweise als etwa bei Remarque." Roth lobte die kleinen Momente in Zhadans Prosa, "die alte Dame mit dem Brot zum Beispiel finde ich sehr berührend, oder die poetisch beschriebenen Nebelschwaden am Morgen im Frühling in Charkiw, das ist großartig."

Soll die russische Kultur auf "Pause" gestellt werden?

Auch über die Rolle der russischen Literatur debattierte die Gesprächsrunde. "Sie ist ein wichtiger Bestandteil der russischen Identität", konstatierte Zhadan. "Die Kriegsverbrechen in den ukrainischen Städten hat ja nicht Putin selbst verübt, sondern russische Soldaten, auf deren Lehrplänen in den Schulen Dostojewski und Tolstoi stand. Ich rufe keineswegs dazu auf, Bücher zu entfernen, aber es gibt zuviel russische Kultur in ukrainischen Städten", in Charkiw gebe es beispielsweise Straßennamen von russischen Dichtern, die nie in Charkiw gewesen seien. "Wenn wir davon reden, dass die russische Kultur auf 'Pause' gestellt werden soll, ist das keine Russophobie, sondern der Wunsch, unserer Kultur überhaupt einen Raum zu geben."