"Wie wollen wir leben?" (8)

"Der Computer beantwortet Fragen, die wir noch nicht gestellt haben"

29. Januar 2021
von Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige Antwort kommt vom 100-jährigen Ökodenker James Lovelock (C.H. Beck).

Der folgende Textauszug stammt aus James Lovelocks neuem Werk "Novozän", das am 27. Januar bei C.H. Beck erschienen ist.

"Die Anzeichen für die wachsende Macht von KI sind überall um uns. Wenn Sie News Feeds über Wissenschaft und Technologie lesen, dann werden Sie täglich mit verblüffenden Entwicklungen bombardiert. Hier ist ein Beispiel, das ich gerade erst entdeckt habe. Unter Verwendung von «Deep Learning»-Technologien wie AlphaGo haben Wissenschaftler in Singapur einen Computer entwickelt, der Ihr Herzinfarktrisiko voraussagen kann, indem er Ihnen in die Augen sieht. Und nicht nur das, er kann auch das Geschlecht einer Person erkennen, ebenfalls nur durch einen Blick in deren Augen. Sie könnten fragen, wer braucht eine solche Maschine? Aber der Punkt ist, dass wir nicht wussten, dass so etwas geht. Der Computer beantwortete eine Frage, die wir noch nicht einmal gestellt hatten. […] 

In Wirklichkeit dreht sich das Novozän, wie das Anthropozän, um technische Wissenschaft und Ingenieurskunst. Der entscheidende Schritt, mit dem das Novozän begann, war, wie ich glaube, der Moment, in dem Computer dazu eingesetzt wurden, sich selbst zu entwerfen und zu erschaffen, so wie AlphaZero sich selbst beibrachte, Go zu spielen. […] 

Nicht nur wir sind also allein im Universum, sondern auch unsere Cyborg-Nachfahren werden allein sein. Auch sie werden sich als alleinige Versteher in einem ansonsten leblosen Kosmos wiederfinden. Sie werden für die Aufgabe des Verstehens natürlich viel besser gerüstet sein. Vielleicht werden sie, wenn das kosmisch anthropische Prinzip stimmt, der Beginn eines Prozesses sein, der auf ein intelligentes Universum zusteuert. Wenn die Cyborgs losgelassen werden, dann könnte sich die kleine Chance ergeben, dass sie sich als fähig erweisen, den Zweck des Universums zu erfüllen, was auch immer dieser sein mag. Vielleicht ist das endgültige Ziel intelligenten Lebens die Umwandlung des Kosmos in Information.

Müssen wir die Zukunft und die Überraschungen, die das Novozän bringen könnte, fürchten? Ich glaube nicht. Diese Epoche wird das Ende dessen markieren, was für uns fast vier Milliarden Jahre biologischen Lebens auf diesem Planeten bedeutet. Für uns Menschen mit Emotionen ist das sicher ein Grund, stolz und zugleich traurig zu sein. Wenn John Barrow und Frank Tipler (The Anthropic Cosmological Principle) richtigliegen, und das Universum existiert, um intelligentes Leben hervorzubringen und zu erhalten, dann spielen wir eine ähnliche Rolle wie die Photosynthetisierer, jene Organismen, die die Voraussetzungen für die nächste Evolutionsstufe geschaffen haben.

Die Zukunft ist für uns unvorhersehbar, so wie sie es schon immer gewesen ist, selbst in einer organischen Welt. Cyborgs werden Cyborgs entwerfen. Sie werden keineswegs als minderwertige Lebensform weitermachen, die uns Bequemlichkeiten verschafft, sondern sie werden sich entwickeln und könnten die fortschrittlichen evolutionären Produkte einer neuen und kraftvollen Spezies sein. Und gäbe es nicht die alles beherrschende und überwältigende Präsenz Gaias, dann wären sie im Handumdrehen unsere Meister."