Nachruf auf den Lyrikkritiker Michael Braun

"Die Karawane verharrt"

24. Dezember 2022
von Hauke Huckstädt

Der Alfred Kerr-Preisträger Michael Braun ist überraschend in der Nacht zum 23. Dezember gestorben und die gesamte deutschsprachige Lyrik steht still. Ein Nachruf von Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses in Frankfurt.

Alfred-Kerr-Preisträger 2018

Michael Braun

Leser und Leserinnen von „Kruso“, „Schutzzone“ oder „Die Kieferninseln“: selbst wer ihn nicht kannte, kann nicht sagen, ihm nichts zu verdanken. Die Urheber dieser Romane wie viele andere hatte Michael Braun früh bereits als Lyriker entdeckt, gewogen und als Poeten von Belang erkannt. Michael Braun hat in seinen Professionen als Kritiker, Anthologist, Juror und Mentor unzählige Literaturen und Schreibweisen zu Würdigung und Betrachtung verholfen. Er hat Werke begleitet, nicht selten bis zum Schluss. Dazu gehörte auch das Verfassen von Nachrufen. Den letzten auf den Dichter Wulf Kirsten vor wenigen Tagen, Stimmenschotter. Nun ist Michael Braun im Alter von nur 64 Jahren über Nacht verstorben. Wie weggerissen von einem Platz, den niemand füllen wird.

Fotos von Michael Braun verheimlichen es nicht. Äußerlich Gemach und Gelassenheit in Person, war er im Kopf viel zu flink, um sich von einer einzigen Belichtung einfangen zu lassen. Die Fotos zeigen einen beladenen Schmunzler, der berechtigte Skepsis im Schlepptau hatte. Und sie zeigen nie das Monumentale, das man sich angesichts seines Werks vor Augen führen könnte.

Eine ruhige Unruh

Braun hat mit dem „Deutschlandfunk Lyrikkalender“ zwischen 2007 und 2011 beispielsweise die größte und umfassendste Gedichtanthologie aufgesetzt, die es je gegeben haben dürfte. 365 kommentierte Gedichte pro Jahr, fünf Jahre lang. Ob mit dem Wunderhorn Verlag, ob mit dem Poetenladen, ob mit dem Literaturhaus Stuttgart, Frankfurt oder Freiburg, ob Deutschlandfunk, Leonce-und Lena-Preis oder das Erlangener Poetenfest, Braun war eine ruhige Unruh. Es brauchte ihn überall. Der Kommentar war eine seiner stärksten Disziplinen. Er konnte Texte über Texte schreiben, die maximal Bestand hatten. Er duckte sich dabei oft beiläufig. Denn nicht selten drohte der Signifikant das Signifikat zu übertreffen. Alle spürten das. Alle, die davon ihren Vorteil hatten. Wenige waren es nicht.

Mit Michael Braun ist der wichtigste und weit und breit einzig universale Kenner der deutschsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts gestorben. Mit ihm verschwindet eine turnschuhtragende Wissensbereitschaft, die unwiederbringlich scheint. Er konnte zitieren, rezitieren, in heiteren Stunden sogar proklamieren. Für das Entlegene ging er weit, für Regalware fand er gute Worte. In diskreten Stunden konnte er skalpellscharfe Schnellurteile fällen. Das konnte berauschend sein. Aber er steckte das Messer wieder ein, ehe man an seine Verachtung auch nur für Schlägereien hätte erinnern müssen.

So vieles bleibt unerledigt

Michael Braun war eine Instanz und wird es bleiben. Was er wusste, trug er nicht vor sich her. Was er mit sich trug, schleppte er, weil er es zwingend fand. Er hat sein graswogendes, hellkitzelndes Wissen lieber in das Herstellen von Verknüpfungen gesteckt als in Karriereetappen investiert. Er war in bester Weise zu gut und zu skrupulös, um in den 90ern einen Chefposten in einer Gazette oder einem Sender zu errangeln. Er begehrte zu sehr, was er las, um sich daran nach vorne zu stoßen. Er war Stoiker und Solist.

Jüngst bat ihn ein Verlag, seinen kritischen Kanon der Lyrik des 21. Jahrhunderts zu schreiben. Er hat das nicht gewollt. Aber er hatte es jederzeit im Kopf. So vieles bleibt unerledigt. Darunter auch dies: ihn vor dem Flachbildschirm anbinden und mit ihm das New Yorker Bühnenkonzert „American Utopia“ von David Byrne anschauen. Der Ex-Frontmann der Talking Heads zitiert darin neben Kurt Schwitters auch Brauns Lieblingsdichter, den Pfälzer Dadaisten Hugo Ball. Ein weltmusikalischer Gegenwartsbeweis für den Nonkonformismus von Ball und für die unaufdringliche Modernität seines besten Patrons, dem Hauensteiner Landsmann Michael Braun. Vermutlich hört er uns Talking Heads hier unten summen, während die Karawane nicht weiterzieht: „jolifanto bambla ô falli bambla“.

Michael Braun als Alfred-Kerr-Preisträger 2018

2018 wurde Michael Braun mit dem vom Börsenblatt gestifteten Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Die Jury hob besonders Brauns kontinuierliches Engagement für die zeitgenössische Dichtung in verschiedenen Rollen hervor. Mit seinem feinen Gespür für Qualität und Substanz entdecke er regelmäßig neue Talente (zur Meldung)

Beim Lesen von Gedichten ist man fast immer mit den Fragen nach den letzten Dingen konfrontiert, wir werden unmittelbar und ohne schützende Einleitung in medias res geworfen. Beim Lesen von Gedichten wird ein Riss sichtbar in dem Weltgebäude, das uns eben noch vertraut schien.

Michael Braun