Deutsch-Französischer Jugendliteraturpreis

Die Shortlist 2022 steht

14. April 2022
von Börsenblatt

Herausfordernde Road-Stories, Rebellieren, Missverständnisse und Zusammenleben jenseits von Normen: Die Jury hat die Titel für die Shortlist des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises 2021 nominiert. In diesem Jahr lag der Fokus turnusgemäß auf der Kategorie Kinderbuch.

Der Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis wird während der Europäischen Jugendbuchmesse (12.-15- Oktober) in Saarbrücken vergeben.

Jörg Mühle: "Als Papas Haare Ferien machten", Moritz, ab 7

Begründung der Jury:

Wie können Haare einfach verschwinden? Jörg Mühle macht das gar nicht so leicht Begreifliche auf phantastisch spielerische Weise nachvollziehbar und lässt die Haare von Papa ein Eigenleben beginnen. Der Text schildert die erstaunten Beobachtungen des Kindes, das analysiert und kommentiert: „An seinen Haaren hing mein Vater sehr. Oder besser gesagt: Er hatte sehr an ihnen gehangen. Jetzt waren sie ja weg. Sie fehlten ihm ganz schrecklich. Ich meine, er war immer mit ihnen zusammen gewesen. Seit Papa ein kleines Baby war. Sie hatten einfach alles gemeinsam gemacht!“ Um Wortspiele wie Haargentinien, Sahaara oder Haarakesch ist Mühle nicht verlegen, Text und Bild sind aus einem Guss – wo die Worte aufhören, erzählen die Zeichnungen eigenständig weiter und komplettieren. Mühle bringt eine wilde Verfolgungsjagd zu Papier, die Haare tarnen sich, bis sie im Zoo schließlich in einem Abflussrohr verschwinden – verloren. Über Flüsse und das Meer kommen die Haare weit herum, schreiben dem Vater sogar Postkarten. Wie sie wieder zu ihm zurückkommen, sei hier nicht verraten, nur so viel: Das Buch ist für junge Zweitleser.innen ein Riesenspaß!

Silke Lambeck, Barbara Jung: "Mein Freund Otto, das Blaue Wunder und ich", Gerstenberg, ab 8

Begründung der Jury:

Gemeinsam stark sein: Das ist das Leitmotiv des Romans. Das Schwimmbad im Kiez ist eine Institution, Generationen haben hier das Schwimmen gelernt, nun soll es geschlossen werden – was die Freunde Otto und Matti nicht akzeptieren. Wie es ihnen gelingt, viele andere Menschen unterschiedlichen Alters davon zu überzeugen, sich gegen den Abriss zu wehren, schildert Silke Lambeck ideenreich – nicht als Superstrategie, sondern als beharrliches, pragmatisches, im Rahmen des Machbaren angelegtes Unterfangen. Dabei fängt sie viel Berliner Lokalkolorit ein, Stimmungen, Charaktere, in heiterem Tonfall, mal schnodderig, mal ernst. Das Nicht-Aufgeben, das Sich-Organisieren, das Netzwerken: Hier erklärt ein Roman, wie gesellschaftspolitisches Handeln funktioniert.

Rebecca Elbs: "Leo & Lucy: Die Sache mit dem dritten L", Carlsen

Begründung der Jury:

Er hat eine Leseschwäche, die er geschickt zu verstecken sucht. Sie sitzt im Rollstuhl, ist grundoptimistisch und managt gerne das Leben anderer. Beste Freunde sind sie, ein eingespieltes Team, zu dem noch ein Alleswisser stößt: Rebecca Elbs zeigt die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Figuren, wie sie Mobbingversuchen und peinlichen Situationen trotzen, Stärken herausfinden, sich Schwächen stellen – Leo nimmt es sogar mit einem Vorlesewettbewerb auf. Aus seiner Perspektive schildert die Autorin mit Witz und Vitalität Abenteuer und Überraschungen in Schule wie Freizeit, Eifersüchteleien, Enttäuschungen, kleine Erfolge und das pralle Leben einer Hochhaus-Gemeinschaft in Köln-Chorweiler. Sichtweisen verschieben sich: Auch wem nicht die Sonne aus dem Hintern scheint, schafft es mit Freunden und Beharrlichkeit zu einem Happy-End.

 

Lisa Krusche: "Das Universum ist verdammt groß und super mystisch", Beltz & Gelberg, ab 10

Begründung der Jury:

Nicht alles kann man in Worte fassen, aber man kann es versuchen. Gustav hat sich vorgenommen zu schweigen; dafür beobachtet er, denkt nach, hält fest. Seine Zufallsbekanntschaft Charles, ein ebenso quirliges wie toughes Mädchen, redet dafür umso mehr, ist praktisch veranlagt und organisiert: Lisa Krusche stellt zwei sich ergänzende Charaktere in den Mittelpunkt eines poetischen Roadtrips, die Gustavs Opa aus dem Berliner Altersheim holen, um den unbekannten Vater des Jungen zu finden. Der alte ehemalige Zirkusclown blüht im Bully-Bus richtig auf, Gustav und Charles werden Freunde und entdecken auf der Fahrt bis nach Istanbul manche Wahrheiten. Krusche verfasst kluge, mitreißende Dialoge, jongliert ebenso abwägend wie schöpferisch mit den Worten, schreibt in einer ungewöhnlich gegenwärtigen, ausdrucksstarken Sprache. Die junge Autorin stellt die richtigen/wichtigen Fragen und zeigt, worauf es ankommt im Leben – Philosophie in einem literarischen Format.

Corinna C. Poetter: "Jukli oder wie ich einen kleinen Esel an der Backe hatte und nicht mehr loswurde", Magellan, ab 10

Begründung der Jury:

Die Kalderari Mamou wird für die explosive Flora zu einer Ersatzomi, die das Leben der Ich-Erzählerin verändert. Denn Mamou und Autorin Corinna C. Poetter trauen der Hauptfigur mächtig viel zu, selbst eine Hunderte km lange Reise mit einem Eselfohlen nach Westfrankreich. Es wird eine Reise, die an und über die Grenzen des pummeligen Mädchens geht, die ihr aber Selbstbewusstsein gibt – und Poetter hält die Höhenflüge und Tiefschläge, die kathartischen Auseinandersetzungen mit Esel Jukli, den Kampf mit Egoismus, Nähe und Vertrauen und das Einstellen auf neue Bekanntschaften authentisch fest, ohne zu beschönigen. Die Leser.innen sind sehr dicht bei Floras Genervtheit, ihrer Wut, ihrer Freude und dem festen Willen, das Versprechen an Mamou zu erfüllen. All das ist eingebettet in wunderbar rotzig-zärtliche Schilderungen über das Zusammenleben mit chaotischen Brüdern, Schulstress, deutscher Vergangenheit, der Kultur der Roma, Zusammenhalt: ein Reifeprozess mit viel Emotion, Reflexion und Atmosphäre.

Anne Gröger: "Hey, ich bin der kleine Tod ... aber du kannst auch Frida zu mir sagen", dtv, ab 10

Begründung der Jury:

Kann man so über Leben und Tod schreiben, dass man lachen muss? Anne Gröger schafft es mit der Kunstfigur des kleinen Tods: Frida mit der Sense, die lernen soll, wie es ist, ein Mensch zu sein, zu atmen, zu fühlen. Auf das Mädchen reagiert der mit allen Wassern gewaschene Samuel zunächst panisch – wegen seines Immunsystems ist er in hypochondrischer Vorsicht vor jedem möglichen Virus. Gröger zeigt temporeich Samuels Vorsorgemaßnahmen mit Slapstick-Situationen, baut geschickt Spannungsbögen auf, lässt absurde mit heiteren Szenen wechseln und mit solchen, bei denen einem das Wasser in den Augen steht. Nach und nach enthüllt die Autorin wie in einem Lehrstück, was Freundschaft bedeuten kann, wie der Kreislauf des Lebens ist – und dass es endlich ist. Über tabuisierte schwierige Themen leicht zu schreiben ist ein Kunststück. Hier ist es geglückt.

Nathalie Stragier: "Grand appartement bizarre : plein de chambres à louer", Syros, ab 8

Begründung der Jury:

Ein Zusammenleben, das stärker ist als alles andere…
Was kann man tun, wenn die Wohnung, in der man lebt, unbezahlbar wird? Umziehen!
So haben es die Erwachsenen beschlossen. Aber Gabriel verbindet diesen Ort mit den Erinnerungen an seine verstorbenen Eltern und will ihn nicht verlassen. Es erfordert die ganze Naivität, den Erfindungsreichtum und die Spontaneität eines Kindes, um auf die Lösung zu kommen, die der Junge sich dann einfallen lässt, um sein Ziel zu erreichen, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Seine Idee? Die große Wohnung mit dem herrlichen Blick auf den Eiffelturm mit der Familie von Félix zu teilen, die ebenfalls ausziehen muss – weil das Geld nicht mehr für die Miete reicht. Sehr glaubwürdig und ohne in Klischees zu verfallen, nimmt eine neue Art des Zusammenlebens von Seite zu Seite Gestalt an, ein fröhlicher Wirbel außerhalb der Norm, über alle Altersgruppen, soziale Grenzen, Charaktere und Vorurteile der einzelnen Personen hinweg. Während die einen den Platz haben, bringen die anderen unerwartete Vorzüge mit, und das gegenseitige Lernen von Verschiedenheit und Toleranz trägt schließlich Früchte: ein eigenes Zuhause, das zu einem warmen, weltoffenen geteilten Zuhause für alle wird. Und ein vielversprechendes gesellschaftliches Modell, das brillant zwischen Humor und Emotionen in Szene gesetzt wird – eines, das bewusst positiv ist und funktioniert!

Émilie Chazerand, Joëlle Dreidemy: "Souris, Maman!", Sarbacane, ab 8

Begründung der Jury:

Emilie Chazerand beleuchtet mit Zärtlichkeit und Energie die schwierig gewordenen Beziehungen zwischen einer überfürsorglichen Mutter und ihrem kleinen Sohn, der neugierig ist, die anderen Kinder, die Schule und die Welt zu entdecken. Der mütterlichen Exzentrik nachspürend, sprüht der Schreibstil vor Schalkhaftigkeit und Einfallsreichtum, nicht ohne Augenmerk auf aktuelle Fragen zu legen, wie Mobbing auf der Straße (oder eher in der Kanalisation) durch eine große, aggressive Ratte und die geistige Ermattung einer Maus, die Mutter von gleich Dutzenden von Mäuslein ist... Man muss sich einfach vom rasanten Tempo dieses humorvollen, einfühlsamen und von Joëlle Dreidemy hervorragend illustrierten Romans mitreißen lassen. Eine gewisse Familienähnlichkeit mit der Welt von Roald Dahl und Quentin Blake kann nicht verhehlt werden, mit jeder Menge Originalität und einem gehörigen Schuss Verrücktheit!

Georges Bruyer, Béatrice Égémar: "La Grande Guerre d’Émilien", Élan vert, ab 9

Begründung der Jury:

„La Grande Guerre d'Émilien“ ist eine Erzählung von Béatrice Égémar über den Ersten Weltkrieg, die aus fiktiven Briefen besteht, die ein „Poilu“ (wie man die französischen Frontsoldaten nannte) an seine Frau geschrieben hat. Der nüchterne und ergreifende Text stützt sich auf wunderschöne aquarellierte oder unbearbeitete Skizzen, die vor mehr als einem Jahrhundert – an der Front – von dem Künstler Georges Bruyer angefertigt wurden.
Obwohl die Briefe von Béatrice Égémar in der heutigen Zeit geschrieben wurden, stehen sie in perfektem Einklang mit der Bilderwelt des Künstlers im Grabenkrieg. Wie die Illustrationen zeichnet die fiktive Korrespondenz in winzigen Pinselstrichen den Alltag des Ersten Weltkriegs nach: das Wache-Halten, das Warten, den Stacheldraht, der bei Einbruch der Dunkelheit gelegt wird, die mörderischen Angriffe, die kleinen Ausbesserungsarbeiten, die Entspannungsmomente, die Liebesworte, die man abends bei Kerzenlicht schreibt, zwischen dem Wunsch, seine Angehörigen zu beruhigen und das Unaussprechliche zu benennen... In einer perfekten Symbiose, im Bemühen um Genauigkeit und poetische Nüchternheit, die auch einem jungen Publikum zugänglich ist, zeugen Text und Illustrationen von einer zeitlosen und tiefen Liebe zur Menschheit, selbst in den schrecklichsten Zeiten der kriegerischen Barbarei.

 

Hervé Giraud, Émilie Gleason: "Le garçon qui croyait qu’on ne l’aimait plus", Seuil jeunesse, ab 9

Begründung der Jury:

Wie durch Unkenntnis Unachtsamkeiten und Missverständnisse zu Katastrophen werden…
Im Kindergarten liebt Charly die großen gelben Dreiräder, mit denen er mit wehenden Haaren durch die Gegend rasen kann. Jeder kommt einmal an die Reihe, man muss teilen. Daher die Überraschung, als er in die 1. Klasse kommt: auf dem Schulhof gibt es nur ein tolles Gerät mit 4 Rädern, das er unbedingt ausprobieren möchte. Nur gibt es da ein Problem. Camille, der Junge, der es besetzt, ist nicht bereit, es zu verlassen. Aus Wut über diese Ungerechtigkeit zerrt ihn Charly von seinem „egoistischen Spielzeug“ herunter – ein Skandal! Die Tat macht ihn sofort unbeliebt. Denn niemand kann sich vorstellen, dass er einfach keine Ahnung von Behinderung hatte. Anstatt ihm Camilles Situation zu erklären und ihm die Verhaltensregeln zu erklären, die er nicht kennt, wird er von allen verurteilt und abgestraft. Auf sich selbst zurückgeworfen und in einer Spirale von Missverständnissen feststeckend, isoliert sich Charly und verliert immer mehr den Anschluss… Ein großer schwarzer Baum scheint in ihm zu wachsen, der ihn mit seinem ganzen Gewicht erdrückt.
„Starke, lustige, freche Geschichten“, kündigt die Reihe an – und die drei Adjektive beschreiben Charlys Erzählung perfekt. Seine Naivität bringt uns zum Lächeln, seine Verzweiflung erschüttert uns, die blinde Autorität, mit der er konfrontiert wird, trifft uns hart. Man möchte ihm helfen. Man möchte denjenigen die Augen öffnen, die ihn „wie einen giftigen Pilz“ anschauen. Und man seufzt erleichtert, wenn sich endlich eine warme Hand auf seine legt. Schließlich findet er den Weg zurück in die Schule, dank eines geschickten und unerwarteten Umweges, voller Trost und Zuneigung. Ein intensiver und fesselnder Roman, dessen wunderschöner Einband mit seinen lebensprallen Illustrationen sich zu einem Poster auffalten lässt – zum Sammeln, das gilt auch für die Emotionen

Anne Rehbinder, Vincent Bergier: Beurre breton et sucre Afghan", Actes Sud junior, ab 9

Begründung der Jury:

Anne Rehbinder wählt die Perspektive der jungen Lily, um das komplexe Thema der Aufnahme von Flüchtlingen aus Sicht der Kinder aufzuarbeiten: Ist es so einfach, den Anderen willkommen zu heißen, wenn der Alltag schon schwierig genug ist, wenn das Erlernen sozialer Beziehungen bereits von Sexismus und Mobbing geprägt ist? Das Buch zeigt, dass es jenseits von Diskursen, die zu Unstimmigkeiten innerhalb einer Gemeinde oder einer Familie führen können, die Menschen sind, die wir treffen, die uns weiterbringen; und es sind die Taten, die ein dauerhaftes Zusammenleben ermöglichen. Ohne Rührseligkeit oder Blauäugigkeit handelt dieser Roman von Freundschaft und kulinarischem Genuss und dem daraus hervorgehenden ersten afghanisch-bretonischen Food-Truck. Mit diesen Köstlichkeiten, die die Unterschiede überwinden, wächst die Gemeinschaft zusammen. Fernab von Hassreden und Fremdenfeindlichkeit, und stattdessen mit Großzügigkeit und Genuss, gelingt es dem Roman, jungen Leser*innen von Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zu erzählen. Ein Buch, das gut tut und vielleicht nicht nur reine Utopie ist.

Dominique Périchon: "Martine ne sait rien faire", Rouergue, ab 9

Begründung der Jury:

Die vergessliche und unbekümmerte Martine ist nur von einer Sache im Leben überzeugt: ihrer eigenen Mittelmäßigkeit. Das ändert sich schlagartig, als Isadora Santos-Dupont, eine junge Fremde von der anderen Seite des Atlantiks eines Morgens an ihrer Schule auftaucht. Die etwas spröde und herrlich altmodisch wirkende Isadora scheint aus der Belle Époque zu kommen. Wie der französische Flugpionier Louis Blériot – nur mit Kleid – hat sie einen verrückten Traum: wie die Vögel zu fliegen. „Martine ne sait rien faire“ ist eine Ode an die Kraft des Traums und der Fantasie. Der Roman beschwört mit Nostalgie die verrückte Queste zweier Heldinnen herauf, zwischen denen alles gegensätzlich zu sein scheint, die aber dennoch über ihre wunderliche Unbekümmertheit und ihren Glauben an die Freiheit miteinander verbunden sind. Der Autor nimmt uns mit auf ein außergewöhnliches Abenteuer in luftiger Höhe, voller Charme und Sanftheit und schenkt zugleich einer Ikone des französischen Bilderbuches ein schelmisches Augenzwinkern.