Exklusiv im Börsenblatt

Elena Ferrante: "Ich bin nicht meine Bücher"

1. September 2020
von Börsenblatt

Interviews wird sie keine geben, aber Schriftstellerin Elena Ferrante hat sich zum Start ihres neuen Romans Fragen von Buchhändlern und Übersetzern gestellt. Heute geht es um das Schreiben als Selbsttherapie, Literatur im Schulunterricht und ihre Beziehung zur Realität.

"Im günstigsten Fall tüchtige Schaumschläger"

Ivo Yonkov, Übersetzer, und Dessislava Dimitrova, Buchhändlerin, Colibri, Sofia, Bulgarien: 

1. Warum kommen Sie immer wieder auf eine schmerzhafte Vergangenheit zurück? Ist Schreiben für Sie vor allem eine Form der Selbsttherapie?

2. Was halten Sie von der Literatur, die in den italienischen Schulen behandelt wird? Sind Sie der Ansicht, dass sie die Entwicklungen der Welt widerspiegeln, in der wir leben? Welche Werte vermittelt sie? Und teilen Sie diese Wertvorstellungen?

Elena Ferrante: Nein, ich habe das Schreiben nie als eine Form der Therapie betrachtet. Für mich ist Schreiben etwas ganz anderes: Den Finger in die Wunde zu legen, was sehr wehtun kann. Beim Schreiben geht es mir so wie Leuten, die häufig mit dem Flugzeug fliegen müssen, aber Angst haben, es nicht zu schaffen, die sich den ganzen Flug über quälen und bei der Landung glücklich sind, obwohl sie auch fix und fertig sind. Was die Schule angeht, weiß ich wenig darüber, wie sie heutzutage funktioniert. Die Schule, die ich absolvierte, verwandelte Literatur, die ich als Erwachsene wunderbar fand, in todlangweilige Übungen, die benotet werden mussten. Diese Schule lehrte Literatur, indem sie die Freuden der Phantasie und der Identifikation abtötete. Nimmt man einem Satz seine Energie, um irgendetwas über dieses Adjektiv oder jene rhetorische Figur zu faseln, bleiben nur abgemagerte Buchstabenkombinationen auf der Seite zurück, und aus den Jugendlichen macht man im günstigsten Fall tüchtige Schaumschläger.

 

"Die Erzählung möge sich so weit wie möglich von mir entfernen"

Enza Campino, Buchhandlung Tuttilibri, Formia, Italien: Die Wahrheit, die in Ihren Geschichten steckt, ist meines Erachtens der Generalschlüssel zu den Herzen von Lesern, die ja aus den unterschiedlichsten Kulturen und geographischen Regionen stammen (wenn man bedenkt, dass Michelle Obama und Madonna Ihre Werke ebenso lesen wie ein chinesischer Manager oder ein türkisches Mädchen), weshalb ich Sie fragen möchte, wie sehr Ihre Beziehung zur Realität, die in Ihre Romane einfließt, von dieser Tatsache beeinflusst ist?

Elena Ferrante: Schreiben ist eine sehr private Angelegenheit. Ich habe immer für mich selbst geschrieben, und viele meiner Texte sind in der Schublade geblieben. Doch immer, wenn ich mich entschloss, eine Erzählung zu veröffentlichen, tat ich es mit dem Wunsch, sie möge sich so weit wie möglich von mir entfernen, möge reisen, möge andere Sprachen sprechen als die, in der ich sie geschrieben hatte, möge in Regionen, in Häuser gelangen, auf die mir jeder Blick verwehrt ist, möge das Medium wechseln, so dass aus dem Buch ein Theaterstück, ein Film, eine TV-Produkion, ein Comic werden könnte. Das waren meine Gedanken, und die haben sich nicht geändert. Mein Schreiben ist, solange ich schreibe, sehr schüchtern, aber wenn sich daraus ein Buch entwickelt, wird mein Schreiben ehrgeizig, es ist unbescheiden. Ich will damit sagen, ich bin nicht meine Bücher, und vor allem habe ich kein Leben, das so sehr auf sich hält wie ihres. Die Bücher sollen getrost dorthin gelangen, wohin sie gelangen können, ich werde weiterschreiben, wie es mir passt, wie und wann es mir gefällt. Sowie meine Texte in Buchform existieren und fortgehen, hat meine Unabhängigkeit nichts mehr mit ihrer zu tun.

"Was erzählenswert war, fand nie bei mir zu Hause statt"

Audrey Martel, Buchhändlerin, Librairie l'Ecèdre, Trois-Rivières, Kanada: Inwiefern hat Sie Italien als Schriftstellerin geprägt - oder genauer gefragt: Inwiefern beeinflusst der Ort, an dem Ihre Romane spielen, die Geschichte und das Leben Ihrer Figuren?

Elena Ferrante: Einen wichtigen Teil meiner Erfahrungen habe ich hier in Italien gesammelt. Mit diesem Land ist das verbunden, was mir am Herzen liegt, angefangen bei der Sprache, die ich benutze, seit ich sprechen kann, seit ich lesen und schreiben kann. Aber als Kind fand ich die Realität des Alltags langweilig. Was erzählenswert war, fand nie bei mir zu Hause statt, nie unter meinem Fenster, nie in meiner Sprache oder in meinem Dialekt, sondern anderswo, in England, Frankreich, Russland, in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika etc. Ich schrieb exotische Geschichten, die Italiens Geographie und Eigennamen auslöschten. Diese waren mir unerträglich, ich war mir sicher, dass sie jede Erzählung im Keim erstickten.
   Die große Literatur, die mich begeisterte, war nicht italienisch, oder wenn sie es war, fand sie Mittel und Wege, um die Italianität von Städten, Personen und Dialekten geschickt zu umgehen. Meine Haltung war kindlich, änderte sich aber nicht, bis ich mindestens zwanzig war. Als ich dann glaubte, genug über die Literatur zu wissen, die ich liebte, begann ich mich für die Literaturtradition meines eigenen Landes zu interessieren, ich lernte, die Bücher, die mich am stärksten beeindruckten, zu nutzen, um mir eine Art Ruck zu geben und über das zu schreiben, was mir bis dahin zu einheimisch, zu national, zu neapolitanisch, zu weiblich, zu persönlich vorgekommen war, um erzählt zu werden.
    Heute bin ich der Ansicht, dass eine Erzählung dann funktioniert, wenn sie schildert, was nur du in dir trägst, wenn sie gedanklich in Texten verortet ist, die du geliebt hast, wenn du hier und jetzt schreibst, vor einem Hintergrund, den du gut kennst, und mit einer Fertigkeit, die du erworben hast, als du voller Leidenschaft in der Literatur aller Zeiten und aller Orte gestöbert hast. Mit den Figuren verhält es sich ebenso: Sie werden gehaltlos, wenn du ihnen nicht eine Verknüpfung gibst, die sich mal festzieht und sich mal lockert, ein Band, das man zerschneiden möchte, das aber hält.

Elena Ferrante im Börsenblatt

Öffentlich aufgetreten ist Ferrante noch nie, und das hat sich auch zum Start ihres neuen Romans "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (Suhrkamp) nicht geändert. Es gibt ein großes Rätselraten, wer hinter dem Pseudonym steckt – die verschiedenen Spuren hat im Frühjahr der Reclam-Band "Elena Ferrante - Meine geniale Autorin" verfolgt. Sehr offen ist Ferrante hingegen auf die Fragen der Buchhändlerinnen und Übersetzerinnen eingegangen.

Zum Abschluss wird Elena Ferrante morgen Fragen von Buchhändlerinnen aus Dänemark und Schweden beantworten - auch darüber, ob sie sich vorstellen kann, über einen anderen Ort als Neapel zu schreiben. Ihre bisherigen Antworten:

"Ich schreibe sehr viel um"

"Der Dialekt zwingt sich in Momenten der Krise auf"

"Darüber schreiben, wie uns die Ausbreitung der Angst verändert"

Mehr über die italienische Schriftstellerin finden Sie unter www.elenaferrante.de