1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Mehr Aufklärung!

9. April 2021
von Stefan Hauck

Eine wichtige Stimme der jüdischen Community ist die Schriftstellerin Mirna Funk: Ein Gespräch über Jüdischsein, Alltag und Literatur.

Ist das Jubiläumsjahr ein guter Anlass, mehr Wissen über das Judentum zu vermitteln?
Bestimmt – wir sind seit 1700 Jahren in Deutschland und kein Deutscher kann einfache Fragen wie "Was ist eine Bar-Mizwa?" oder "Wann wird ein jüdischer Junge beschnitten?" beantworten. Stattdessen hat sich "Sechs Millionen Juden wurden ermordet und Juden können gut mit Geld umgehen" in den Köpfen festsetzt. Wir lösen das Problem des Unwissens auch nicht, wenn wir Jugendliche durch ein KZ schleusen; das ist eher kontraproduktiv, weil viele nachher denken, Hitler hätte den Antisemitismus erfunden. Den gibt es aber seit 1700 Jahren auf deutschem Boden, es gibt eine antisemitische Kontinuität.

Wie kann man entgegenwirken?
Das Wichtigste ist Aufklärung! Das mache ich zum Beispiel mit dem Podcast #1700 Jahre JLID; dort geben wir Juden und Jüdinnen die Möglichkeit, selbst zu reden. Ein Hörer hat mir geschrieben "Krass – hier lerne ich so viel über das Judentum!"

Wovon wird das jüdische Leben geprägt?
Die Juden in Deutschland kommen aus unterschiedlichen Ecken der Welt: viele Kontingentgeflüchtete aus der früheren Sowjetunion, Amerikaner, Israelis. Es gibt nur wenige, die hier kontinuierlich gelebt haben. Von außen werden wir ständig mit den Themen Antisemitismus, Shoah und Israel/Palästina konfrontiert, aber das ist nicht unser Alltag; unter uns erleben wir ja keinen Antisemitismus. Wenn ich mich mit Freunden unterhalte, reden wir viel übers Judentum, welche Bedeutung die Thora und die Schriften haben.

Welche Rolle spielt die Religion?
Einige sind religiös, andere gar nicht. Ich bin Jüdin – und keine Deutsche jüdischen Glaubens. Wir sind eine Volksgemeinschaft, vielleicht vergleichbar mit den Kurden, und es geht auch ganz ohne Religion. Ich selbst bin nicht religiös aufgewachsen, manchmal mache ich Schabbat, manchmal nicht. Morgen ist Pessach, dafür habe ich gerade eingekauft, das feiere ich.

Wie offen ist die jüdische Religion?
Sehr! Es gehört zur Tradition, zum Schabbat nichtjüdische Freunde einzuladen. Wir haben eine große Diskussionskultur, was daher kommt, dass unser Verhältnis zu Gott ein ebenbürtiges ist. Deshalb besprechen wir auch die religiösen Texte wieder und wieder – es gibt keine absolute Wahrheit.

Wie wichtig sind bei Ihrem gerade erschienenen Roman "Zwischen Du und ich" (dtv) Ihre eigenen Erfahrungen?
Jemand, der nicht jüdisch ist, hätte dieses Buch nicht schreiben können. Es ist eng mit der jüdischen Lebensrealität verknüft. Niemand, der nicht jüdisch ist, käme auf die Idee, dass zwei jüdische Verliebte bei einem Date unwillkürlich prüfen: Kann man mit diesem Menschen ein KZ überleben? Für Juden ist das ein üblicher Gedanke, es ist die Weitergabe einer Traumatisierung. Vor drei Jahren kam ein Freund von mir aus Jerusalem nach Berlin, mitten im Winter, und das erste, was ihm in den Sinn kam, war: Und die Deportierten damals hatten bei dieser Kälte noch nicht einmal Mäntel.

Wie kamen Sie auf die Idee für den Roman?
Schon vor zehn Jahren wollte ich über die transgenerationale Weitergabe von Traumata schreiben. Was machen die Gewalterfahrungen unserer Vorfahren mit uns? Und sie machen sehr viel mit uns. Sie verändern unser Denken, unser Handeln, unser Leben. Sie beeinflussen uns auf eine kaum zu fassende Weise. Dabei schließt sich sofort die Frage an: Wieviel Freiheit habe ich, wenn meine eigene Biografie vorgegeben scheint. Dieser Frage wollte ich mich widmen und zeigen: Ja, es gibt Freiheit. Wir sind frei auf sehr unterschiedliche Weise mit unseren Traumata umzugehen.

Welche deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller sollte man unbedingt gelesen haben?
Maxim Biller, einer der besten hiesigen Schriftsteller, in seinem Talent sicher verkannt. Außerdem Olga Grjasnowa, Dmitrij Kapitelman, Sasha Marianna Salzmann, Kat Kaufmann, Katja Petrowskaja, Yasha Mounk.

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