Leipzig liest extra

"Wir machen das hier wirklich!"

28. Mai 2021
von Nils Kahlefendt

Pandemie & historisch schlechtes Wetter: Die große „Institutsprosa“-Sause im Garten des Deutschen Literaturinstituts Leipzig glich im Vorfeld einer Machbarkeitsstudie im Auftrag von „Neustart Kultur“ – am Ende wurde hier etwas gefeiert, was wir alle schmerzlich vermisst haben: die Rückkehr der Live-Lesung

„Wer eine Open-Air-Lesung mit fast 30 Beteiligten bei historisch schlechtem Wetter, während einer Pandemie und laufenden Sanierungsarbeiten veranstaltet, braucht gute Nerven und Unterstützung.“ So begrüßte Jörn Dege, Geschäftsführer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), am ersten Abend von „Leipzig liest extra“ die knapp 130 Gäste im Garten der Wächterstraßen-Villa. „Wir machen das hier wirklich“, staunte Dege – was nicht zuletzt an der Unterstützung durch Neustart Kultur und den Sächsischen Literaturrat lag. Bei so viel Goodwill hatte auch der Himmel ein Einsehen: Es blieb trocken, vereinzelte Sonnenstrahlen wurden gesichtet.

Wer Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Meinung war, dass die Literatur, die in Leipzig und Hildesheim, den damals noch einzigen akademischen Schreibschulen der Republik, entstand, zwar handwerklich perfekt und sprachlich ausgefeilt gewesen sei, aber leider nichts zu erzählen habe, brachte das gern auf die Formel „Institutsprosa“. Das Schmähetikett ist inzwischen zu einer positiv besetzten Trademark geworden: „Institutsprosa“ nennt sich eine von Jörn Dege organisierte Veranstaltung, die seit einigen Jahren zur Leipziger Buchmesse regelmäßig für rappelvolle Räume am DLL sorgt.
 

Das Who's Who der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

2020 musste die Veranstaltung aus bekannten Gründen abgesagt werden. Nun findet sie unter besonderen Umständen statt: Ende Mai statt Mitte März, an zwei Abenden statt einem, draußen im Garten statt drinnen im Saal – und mit insgesamt 18 Lesenden. Vorgestellt werden sie von ehemaligen und aktuellen Studierenden aus Leipzig. Schon das Defilee der Lesenden, die am ersten Abend unterm niedrigen Schirm des Lese-Zelts Platz nahmen (die AHA-Regeln wurden um ein „Gebückt zum Lesetisch!“ ergänzt), glich einem Who’s Who der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur samt angeschlossener Verlagswelt: Lorenz Just (Dumont), Kaśka Bryla (Residenz), Jonathan Böhm (Faber & Faber), Dorothee Elmiger (Hanser), Florian Wacker (Berlin Verlag) Mareike Krügel (Piper), Christina Maria Landerl (Müry Salzmann), Roman Ehrlich (S. Fischer) und Kristof Magnusson (Kunstmann).

Mitten in dieser sonderbaren Zeit ist das Institut 25 Jahre alt geworden; mehr als 300 literarische Titel von über 150 ehemaligen Studierenden stehen auf den Regalbrettern der Bibliothek. Allein in den letzten 12 Pandemie-Monaten sind 38 neue Titel dazugekommen. Nicht alle Autorinnen und Autoren konnten eingeladen werden. Dass dennoch alle 18 Angefragten ohne Zögern angereist sind, egal ob aus der Schweiz oder Schleußig, hält Dege für ein kleines Wunder. Viele der Studierenden sahen sich das erste Mal seit langer Zeit – obwohl sie sich wöchentlich im digitalen Raum zu Werkstattseminaren treffen.

Als das DLL nach Abwicklung des Becher-Instituts Mitte der 90er neu gegründet wurde, kam dessen heutiger Geschäftsführer gerade in die 6. Klasse des Hohenzollerngymnasiums im schwäbischen Sigmaringen. Josef Haslinger, der scheidende Direktor des Instututs, war die ganze Zeit da. In diesen Tagen räumt er sein Büro, das Ende einer Ära. Den Abend im Garten, im Kreis seiner Studentinnen und Studenten, die sich die realen Bühnen nun wieder erobern werden, hat er still genossen.