Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Omri Boehm: "Ungehorsam im Namen einer höheren Gerechtigkeit"

13. Februar 2024
von Michael Roesler-Graichen

Nur ein radikaler Universalismus jenseits von Identität kann für Gerechtigkeit sorgen, auch im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Omri Boehm, Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2024, begründet im Gespräch, warum.

Omri Boehm

Omri Boehm

Mit Ihrer Philosophie versuchen Sie, Menschenwürde und Gerechtigkeit auf der Basis letztgültiger Wahrheiten zu begründen – und rufen dabei Kant und die biblischen Propheten als Zeugen an. Glauben Sie, dass ein solches Konzept in einer Welt ohne Metaphysik eine Chance hat?
Das hängt davon ab, was Sie unter einer Welt ohne Metaphysik verstehen. Wenn Sie eine Kultur meinen, in der postmetaphysisches Denken die vorherrschende Art des Denkens ist, in der es eine grundlegende Skepsis gegenüber metaphysischen Aussagen gibt, d.h. solchen, die eher durch philosophische Überlegungen als durch wissenschaftliche, empirische Erkenntnisse wahr oder falsch sein können – dann glaube ich, dass solche Wahrheiten eine Chance haben. Glaube ich, dass sie viel Macht haben? Kaum. Aber es ist unsere Aufgabe, eine Kultur zu schaffen, in der solche Wahrheitsansprüche gehört werden.

Werden die UN-Menschenrechtscharta und die nachfolgenden Konventionen in ihrem Wesensgehalt wirklich verstanden – oder ist das nur Wunschdenken?
Ich würde sagen weder noch. Als Institutionen sind sie wichtige Verkörperungen normativer Aussagen, die unabhängig von den Institutionen gültig sein müssen. Und ich halte die Verkörperung metaphysischer Ansprüche in Institutionen für sehr wichtig und entscheidend. Wir sollten zu diesen Institutionen stehen und sie verteidigen – und sie unbedingt kritisieren und reformieren, wenn sie die Werte, für die sie geschaffen wurden, nicht verteidigen. Die Aufgabe ist wesentlich schwieriger, als wir das normalerweise wahrnehmen. Ein aktuelles Beispiel ist die Situation in meinem Land, in Israel: Es zeigt, wie wesentlich und zugleich nicht selbstverständlich die Autorität universaler und universalistischer Ansprüche – die Verteidigung der Menschenwürde durch die Einhaltung internationalen Rechts – ist. Weil sie ernsthafte Forderungen sind, geraten sie in Situationen wie den aktuellen unter Beschuss und werden in Frage gestellt. Und es ist ein Zeichen für ihre Wirkkraft, dass sie in Frage gestellt und nicht ignoriert werden.

Omri Boehm

Zur Person

Omri Boehm wurde 1979 in Haifa geboren und arbeitet heute als Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger und hat unter anderem in München und Berlin geforscht. Bei Propyläen erschienen seine Bücher »Israel – eine Utopie« (2020), »Radikaler Universalismus jenseits von Identität« (2023) sowie, gemeinsam mit Daniel Kehlmann, »Der bestirnte Himmel über mir« (2024). Am 20. März wird ihm der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen.

»Radikaler Universalismus jenseits von Identität«: So heißt eines Ihrer Bücher. Wie könnte es gelingen, radikalen Universalismus für die Politik nutzbar zu machen?
Eines der offensichtlichsten Beispiele, das ich in meinem Buch erwähne, ist der aktuelle israelisch-palästinensische Konflikt. Die antihumanistischen Reaktionen auf das Hamas-Massaker in einigen Ecken der globalen Linken haben mich nicht überrascht, sie haben mit dem posthumanistischen, identitären Diskurs zu tun. Sie zeigen, dass die Angriffe auf den Universalismus alles andere als »Fiktionen« oder »saftige Anekdoten« über die anti-liberale Linke sind. Auf der anderen Seite scheitert aber auch der sogenannte Westen mit seinen liberalen Demokratien, wenn es schwierig wird, die Würde des Menschen, die Humanität staatenloser Palästinenser angesichts einer Katastrophe zu verteidigen und ohne Kompromiss zum Recht zu stehen. Ich habe mit großer Sorge beobachtet, wie leicht es selbst nach so langen Kämpfen und schrecklichen Ergebnissen war, die Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand fast zu delegitimieren. Unglücklicherweise sind beide Seiten dieser Debatte im Recht, wenn sie das moralische Versagen der anderen Seite kritisieren – ohne, um jedes Missverständnis auszuschließen, dass man deshalb beide Seiten gleichsetzen könnte. Das moralische Versagen beider Seiten, zu den Ansprüchen, Konsequenzen und Pflichten der universalen Rechte zu stehen, resultiert aus ihrer Unfähigkeit, einen genuinen Universalismus zu verteidigen. Deshalb eigentlich habe ich mein Buch geschrieben.

Aus der Jurybegründung

»Boehm zufolge sind auch in modernen Gesellschaften letztgültige Wahrheiten unverzichtbar, um die Gleichheit und die Würde der Menschen unantastbar zu machen. Er scheut sich nicht, für den Universalismus metaphysische Begründungen zu fordern und findet sie im Brückenschlag zwischen der Philosophie Kants und dem Erbe der biblischen Propheten.«

Wie kann ein radikaler Universalismus nachhaltig gestaltet werden?
Die Anhänger des Konzepts einer offenen Gesellschaft – wie Karl Popper in seinem Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«– fragen sich, ob letztgültige Wahrheiten, wenn sie die Politik beeinflussen, nicht die Offenheit einer Gesellschaft gefährden. Die Herausforderung für mich ist, eine universalistische Position zu finden, die möglichst offengehalten werden kann. Die Geltung eines Satzes wie »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – Artikel 1 des Grundgesetzes – leite ich aus dem kantischen Begriff der Humanität ab, an dessen Beginn der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit steht – die Pflicht, für sich selbst zu denken. Es geht nie darum, Menschen zu sagen, was sie denken sollen, sondern dass sie selbst denken. Das ist der Unterschied zu geschlossenen politischen Konzepten und Ideologien, die den Menschen vorschreiben, was sie zu denken haben.

Während der deutschen Migrationskrise 2015/16 rechtfertigte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Entscheidungen zur Aufnahme von Flüchtlingen und erklärte, sie würde einem "humanitären Imperativ" folgen. Das war ein kantischer Ton in der öffentlichen Debatte. Aber das hat die fortschreitende Spaltung unseres Landes nicht aufgehalten ...
Nein, Humanismus führt nicht immer zu einem Konsens. Gleichzeitig ist wahr: Im Allgemeinen üben die humanistischen Werte Druck auf die Grenzen aus. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Flüchtlinge ein Recht auf einen sicheren Hafen haben und von Ländern aufgenommen werden, die dazu in der Lage sind. Und es ist im Falle Deutschlands auch eine angemessene Antwort auf die eigene Vergangenheit. Das schließt nicht aus, dass es politische Probleme gibt, die man lösen muss, auch mit Verhandlungen und Kompromissen. Aber die Leitlinie muss sein, dass wir Kompromisse finden müssen, um die hohen Ansprüche des Humanismus zu verteidigen – nicht, dass wir diese hohen Ansprüche aufgeben müssen, um einen Konsens zu erreichen.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass Flüchtlinge ein Recht auf einen sicheren Hafen haben und von Ländern aufgenommen werden, die dazu in der Lage sind. Und es ist im Falle Deutschlands auch eine angemessene Antwort auf die eigene Vergangenheit.

Omri Boehm

Die zweite Quelle für Ihre Untersuchung ist die biblische Erzählung von Abrahams Auseinandersetzung mit Gott und sein Streben nach einer höheren, größeren Gerechtigkeit. Ist da nicht Kants Denken schon vorgezeichnet?
Ja, es geht um die Geschichte von Isaaks Bindung durch Abraham in der Genesis, das Brandopfer des eigenes Sohnes – die »Akedah« auf Hebräisch – , das ihm von Gott befohlen wird, dem er sich aber in letzter Minute verweigert. Das ist zumindest meine philologische Interpretation. Über diesen Akt des Ungehorsams im Namen einer höheren Gerechtigkeit habe ich ein eigenes Buch geschrieben. Darin habe ich versucht, mit Kant diese Idee philosophisch zu verfolgen: dass der Universalismus, und wie ich meine, das abrahamitische Judentum im Wesentlichen humanistisch und ungehorsam sind. Beide gehen Hand in Hand.

Der Universalismus, wie wir ihn verstehen, basiert auf Quellen und Theorien, die in einem kulturellen Kontext entstanden sind – durch die Bibel, die griechische Philosophie und die Philosophie der Aufklärung. Kann man diese Art zu denken auf außereuropäische Kulturen übertragen?
Sehen Sie: Was wir »westlich« nennen, ist eine Synthese aus nahöstlicher, griechischer und mitteleuropäischer Kultur. Brauchen wir noch mehr Beweise dafür, dass diese Tradition offen sein kann? Universalismus ist nie das Ende eines Gesprächs, sondern sein Anfang.

Die Zweistaatenlösung würde in der gegenwärtigen Konstellation keinen angemessenen Kompromiss zwischen Juden und Palästinensern konstituieren.

Omri Boehm

Aus der Perspektive des radikalen Universalismus haben Sie in Ihrem Buch »Israel – eine Utopie« die Idee einer binationalen Föderation entwickelt, die das zionistisch-palästinensische Dilemma lösen könnte …
Das ist zunächst ein Ideal, eine Utopie, die im Augenblick sehr schwer umzusetzen wäre. Aber es ist ein Ideal von Freiheit und Frieden im Gegensatz zur Zweistaatenlösung, die ich für einen faulen Kompromiss halte. Sie würde in der gegenwärtigen Konstellation keinen angemessenen Kompromiss zwischen Juden und Palästinensern konstituieren. Während der drei Jahrzehnte, in denen die internationale Gemeinschaft die Zweistaatenlösung gefordert hat, wurden weiter Siedlungen gebaut. Was mir aber wichtig ist: Die Unterscheidung zwischen einem Staat und zwei Staaten muss nicht eine Frage von entweder oder sein. In meiner »Haifa-Republik« gibt es einen jüdischen Staat und einen palästinensischen Staat, wobei die nationale Selbstbestimmung, ja sogar die Souveränität bis zu einem gewissen Grad erhalten bleibt – nur sollte diese Souveränität im Rahmen einer gemeinsamen Verfassung für die gesamte Region begrenzt werden. Unterstützer solcher Konstellationen sollten sich in der Pflicht sehen, die Palästinenser als völlig gleichberechtigt zu verteidigen - als ihre eigenen Landsleute. Deshalb trete ich auch jetzt für einen Waffenstillstand ein.