Die Sonntagsfrage

Was bringt Sensitivity Reading, Frau Linnea?

22. Januar 2023
von Börsenblatt

Wie schreibt man über Themen, die außerhalb der eigenen Erfahrung und Zugehörigkeit liegen? Victoria Linnea ist freie Lektorin und hat sich auf Sensitivity Reading spezialisiert. Wie sie Autorinnen und Autoren konkret dabei hilft, Diversität in Romanen umzusetzen und was sie den Verleger*innen bei der IG BellSa in München dazu mit auf den Weg geben möchte, erklärt sie in der Sonntagsfrage. 

Victoria Linnea

Victoria Linnea

Was genau tun Sensitivity Reader?

Sensitivity Reader prüfen Texte, aber auch Filme oder gesprochene Inhalte auf die Darstellung spezieller Themen, die marginalisierten Gruppen berühren. Also Themen um Rassismus, Sexismus, Ableismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus usw.

Sensitivity Reader decken jedoch nicht nur problematische Ausdrucksweisen auf, die nicht von den Autor*innen intendiert waren, Sensitivity Reader beraten auch Autor*innen und Verlage im Vornherein, um ihnen zu helfen, authentische Werke zu schaffen, die nicht auf denselben eingefahrenen Klischees und Stereotypen basieren.

Wo gibt es Hilfe?

Sensitivity-reading.de ist die Anlaufstelle, an die man sich als Erstes wendet, wenn man nach Expert*innen sucht. Allein die Zugriffzahlen bestätigen, dass sich die Website bewährt hat. Wir bekommen regelmäßig Anfragen zu Interviews, die wir gar nicht alle wahrnehmen können. Von Kolleg*innen hört man regelmäßig, dass Aufträge durch einen Kontakt über die Website entstanden sind. Ich bin sehr froh, dass sich die Mühe lohnt.

Wie ist die Resonanz auf Verlagsseite?

Die Verlage, die auf uns zukommen, sind sehr interessiert. Sensitivity Reading ist nicht entstanden, weil Betroffene einen Markt für ein neues Produkt erschließen wollten. Diese spezielle Art von Überarbeitung (die damals noch nicht „Sensitivity Reading“ genannt wurde) gab es schon im Kleinen und sie hat sich etabliert, weil es die Nachfrage gab. Autor*innen möchten Diversität in ihren Romanen einbringen und suchen nach Unterstützung. Für immer mehr Verlage ist Sensitivity Reading ein fester Bestandteil der Überarbeitung. Anfragen zu Workshops und Weiterbildungen gibt es ebenfalls.

Für welche Werke ist Sensitivity Reading unerlässlich?

Für alle Werke, bei denen man glaubt, dass die Perspektive marginalisierter Personen den Text weiterbringt. Natürlich kann Sensitivity Reading dabei helfen, negative Kritik nach der Veröffentlichung zu vermeiden. Ich finde es aber viel spannender, wenn man einen Schritt weitergeht, d. h. anstatt lediglich die groben Fehler zu vermeiden, kann man sich von den gleichen wiederholenden Geschichten mit den immergleichen stereotypen Narrativen lösen und Werke mit neuen Ideen und Sichtweisen schaffen.

Welche Botschaft bringen Sie mit zu den Verleger*innen nach München?

Es gibt so viele Stoffe, so viele Stimmen, die gehört werden wollen. Seien Sie mutig.

IG BellSa am 26. Januar in München

Die Interessengruppe Belletristik und Sachbuch (IG BellSa) des Börsenvereins lädt zu ihrer Jahrestagung am 26. Januar in das Literaturhaus München ein. Die Debatte um "Cancel Culture" ist das Schwerpunkt-Thema. 

Zum Auftakt der Jahrestagung eröffnet die Journalistin und Alfred-Kerr-Preisträgerin Marie Schmidt mit ihrem Impulsvortrag zu "Sensitivity Reading" eine Gesprächsrunde mit Victoria Linnea und weiteren Branchenkolleg:innen und Expert:innen zum Thema. Eine weitere Gesprächsrunde beschäftigt sich mit dem "Umgang mit Shitstorms". Dieser geht ein Vortrag des Journalisten und Kolumnisten Jens Balzer voraus.

Anmeldung und weitere Informationen unter: https://www.boersenverein.de/interessengruppen/ig-belletristik-und-sachbuch/