Fantasy & Science-Fiction

Flüchten in schönere Fantasy-Welten?

22. Februar 2021
von Guido Heyn

Flüchten sich die Leser*innen in pandemischen Zeiten in vermeintlich schönere Fantasy-Welten – oder eher in dystopische Szenarien? Wir haben uns umgehört. 

Laden Science-Fiction- und Fantasy-Literatur zur Flucht in eine andere Wirklichkeit ein, wird hier mehr gelesen? »Eine große Abwanderung in phantas­tische Gefilde hat nicht stattgefunden«, sagt Andy Hahnemann, Lektor Science-Fiction / Fantasy bei S. Fischer. »In den Warengruppen für Science-Fiction und Fantasy sind keine signifikanten Zugewinne zu verzeichnen. Der Eskapismus-Trend – wenn es ihn denn gab – hat sich wohl eher in der Gaming-Branche oder auf Netflix abge­spielt.« 

Andrea Müller, Programmleiterin Unterhaltung bei Piper, sieht das ähnlich: »Man kann nicht so pauschal sagen, dass SF und  Fantasy durch Corona einen generellen Aufschwung erlebt hätten.« Sie weist auf ein Problem hin, von dem man auch aus anderen Verlagen hört: »Durch die Pandemie hat die eingeschränkte Möglichkeit, neue Bücher, Autoren, Themen und Geschichten vor Ort in der Buchhandlung zu entdecken, zur Stärkung etablierter Autor*innen geführt, während es Debütant*innen eher schwerer hatten.« Eine Bestsellerautorin wie Laura Kneidl habe mit ihrem romantischen Fantasy-Roman »Das Flüstern der Magie« auch 2020 ihre Leser*innen begeistern können, während ein Debüt wie Astrid Scholtes »Four Dead Queens«, dessen Erscheinungstermin mit dem ers­ten Lockdown zusammenfiel, »es am Markt ungleich schwerer hatte als unter normalen Bedingungen«. »Die Leser*innen haben nicht die Möglichkeit, neue Fantasybücher, auf die sie eigentlich in den Buchhandlungen stoßen würden, zu entdecken«, stellt Stephan Askani, Lektor bei Klett-Cotta fest. »Auch das Stöbern im Internet ersetzt diesen Effekt nicht.« Für ihn hingegen fällt die Betrachtung der Umsätze eher positiv aus. Seiner Meinung nach »haben sich die Umsätze in der Fantasy aber dann wider Erwarten doch gut entwickelt«. Allerdings sieht auch er eine deutliche Verschiebung von den Novitäten hin zur Backlist. Vielleicht, so Askani weiter, befriedige dieses Genre ja in Krisenzeiten auch wirklich das Bedürfnis der Leser*innen nach anderen Weltentwürfen. 

Düster oder hoffnungsvoll

Sind bei diesen anderen Weltentwürfen dystopische Stoffe besonders gefragt? Für Müller hat das Pandemiejahr in gewisser Hinsicht die Nachfrage nach Dystopien durchaus erhöht, was man daran sehen könne, »dass Klassiker wie ›Die Pest‹ von Albert Camus wieder auf der Bestseller­liste zu finden waren«. Aber die Corona-Situation erhöhe offensichtlich auch das Bedürfnis nach Wohlfühllektüren über alle Genres hinweg – »auch in der SF / Fantasy, was wir zum Beispiel an den Reaktionen auf Ava Blums romantisch-futuristische Liebesgeschichte ›Tears of light‹ sehen können«. Für Müller findet das Interesse an Themen wie Umwelt und Klimawandel seinen Niederschlag eher in dystopischen Stoffen. 

Für Andy Hahnemann haben die Dystopien derzeit stärker aus politischen Gründen Konjunktur. »1984 war der erfolgreichste SF-Roman der vergangenen Jahre, aber das lag vor allem an Trump.« Aus Hahnemanns Sicht scheinen die Leser*innen als Reaktion auf die Corona-Krise hoffnungsvolle Stoffe zu bevorzugen: »Die Nachrichten sind apokalyptisch genug.« 

Dem Befund stimmt Askani zu. Vor zehn Jahren, so erläutert er, hatte man der SF eine Krise bescheinigt, da die Realität die SF bereits ein- bzw. überholt hätte. Dass dem nicht so ist, zeige die Gegenwart und die Beständigkeit älterer SF-Titel, wie »Otherland« von Tad Williams. »Heute würde man die Marketingstrategie zu diesem Titel ändern, eher auf die gesellschaftskritischen Aspekte eingehen, nicht auf die »unheimliche Welt«, denn die Gegenwart ist schon unheimlich genug, so Askani. 
Politische Übergriffe, wie wir sie sogar in demokratischen Staaten erleben, die wachsende Macht von Großkonzernen und die Kontrolle des Einzelnen mit allen Mitteln lassen solche Bücher nicht unmodern werden. Eines steht für Askani darüber hinaus fest: »Unabhängig vom Genre spielt das Buch eine stärkere Rolle als vor der Pandemie. Lesen bietet die Möglichkeit, der Realität, so seltsam sie auch sein mag, selbstbewusst entgegenzutreten.« 

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