Frankfurter Buchmesse: Reportage

Krise? Welche Krise?

20. Oktober 2025
Nils Kahlefendt

Druckereien am Limit, Verlage, die ganz aufhören oder enger zusammenrücken: Die fetten Jahre sind offensichtlich vorbei. Beobachtungen von der Frankfurter Buchmesse.

Falsche Richtung? Ein wenig komisch fühlt es sich schon an, wenn Heinrich von Berenberg die Stadt Frankfurt genau in dem Moment verlässt, da sich die Messetore am Mittwoch öffnen. „Andererseits bin auch froh. Es wäre wohl eine reine Kondolenzveranstaltung geworden.“ Im September hatte Berenberg die Schließung seines Verlags öffentlich gemacht, von der Insider schon länger raunten. Berenberg zitierte Egon Ammans Abschieds-Spruch aus dem Sommer 2009 und beklagt eine Atemlosigkeit des Geschäfts mit Büchern: „Jedes Programm muss einen Seller haben, sonst verkauft man von seinen Büchern 600 bis 800 Exemplare. Das geht nicht!“ Nach Frankfurt war Berenberg gekommen, um seine mit dem Roman „Wachs“ auf die Shortlist gesprungene Autorin Christine Wunnicke zu begleiten. Der Coup war ihr schon mit dem Vorgänger „Die Dame mit der bemalten Hand“ (2020) gelungen, von dem Berenberg rund 26.000 Exemplare verkaufen konnte. „Da hatten wir nur mit der letzten Auflage Pech gehabt, wir haben einfach zu viel drucken lassen.“

Heinrich von Berenberg

Heinrich von Berenberg

Diesmal lag die Startauflage bei 6.000 Exemplaren. „Als Christine auf die Longlist kam, haben wir sofort 3.000 nachgedruckt, das hat uns den Shortlisttermin gerettet.“ Dann heißt es aufpassen, denn üblicher Weise setzt hier der „Staubsaugereffekt“ ein: Barsortimente und Filialisten pflegen sich großzügig einzudecken. „Wir haben da eine Bremse eingebaut, um nicht zu schnell ausverkauft zu sein“, erläutert Berenberg. Mit Bekanntgabe der Shortlist hat der Verlag dann eine weitere 8.000er-Auflage drucken lassen. In der von Berenberg gewohnten Qualität – Halbleinen, Lesebändchen, Fadenbindung – lässt sich jedoch nicht in Turbogeschwindigkeit nachdrucken; im Fall des Sieges von Wunnicke war eine abgespeckte Auflage von „Wachs“ mit Klebebindung reserviert. Statt die Bestellung auszulösen, muss Heinrich von Berenberg nun abtrainieren. „Blöd nur, dass mir die ersten Buch-Ideen schon wieder in den Schoß gefallen sind.“  

Nicht nur beim traditionellen Österreich-Empfang im Frankfurter Städel Museum, der von Andreas Babler, Bundesminister für Kunst und Kultur und HVB-Präsident Benedikt Föger eröffnet wurde, sind die Zeiten von Tafelspitz und Kaiserschmarrn perdu. Bei Laugenbrezeln mit Salz werden die Gespräche fokussierter. Die wirklich brennenden Probleme werden schmerzlich fassbar etwa in einem Podium über den Buchhandel in Zeiten des Krieges mit Mahmoud Muna (Educational Bookshop Jerusalem), Oleksii Erinchak (Bookshop Sens, Kiew) und Vanessa Martini (Green Apple Books, San Francisco). Hier geht es um Räume für persönliche Begegnungen, immer um „mehr, als Bücher zu verkaufen“, wie es Oleksii Erinchak formuliert, dessen Laden zwei Monate vor Putins Vollinvasion startete. 

Stephan Grünewald

Stephan Grünewald

Der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald (Rheingold Institut) legt die immer noch verwöhnten Deutschen in seinem neuen Buch „Wir Krisenakrobaten“ (KiWi) kollektiv auf die Couch. „Die Krisen unserer Zeit setzen die Menschen enorm unter Stress. Viele ziehen sich deshalb in ein privates Schneckenhaus zurück.“ Während man im Innern noch viel Zuversicht hat, errichtet man nach außen ein Bollwerk. „Während Krisen normalerweise auch Wandlungen, Veränderungen provozieren“, so der Forscher, „haben sie inzwischen eine Zombi-Qualität erreicht“. Grünewald plädiert dafür, unsere Macken offen herzuzeigen. Und am besten eine Idee zu haben, die zu Aufbrüchen leitet – frei nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“

„Crisis? What Crisis?“, das vierte Supertramp-Studioalbum, erschien im September 1975, und erreichte, zwei Jahre nach den ersten autofreien Sonntagen im Gefolge der Ölkrise, in Deutschland mit 250.000 verkauften Einheiten immerhin Gold-Status. „Krise ist immer!“, pflegte Klaus Wagenbach vergnügt zu sagen, „die gab es schon zu Gutenbergs Zeiten“. Auch der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich, dass er schon vor 30 Jahren eine sich ständig verschärfende „Konzentrationsbewegung der Buchbranche“ quasi im Stehsatz seiner Berichterstattung hatte. Ist also die Klage des Kaufmanns Gruß, alles wie immer? Oder hat sich etwas grundlegend geändert?

Peter Gulde

Peter Gulde

 

Bis 2024 war Peter Gulde Inhaber von Gulde Druck in Tübingen, ein vollstufiger Betrieb mit Satz, Druck und Buchbinderei. Ein solides schwäbisches Unternehmen, gegründet 1919, zuletzt 20 Mitarbeiter, in vierter Generation geführt. In Corona-Zeiten verlor Gulde Aufträge und Kunden, eine Abwärtsspirale, die nicht mehr zu stoppen war. „Sie müssen als technischer Betrieb viel investieren“, sagt Gulde, „wenn Sie da nicht à jour sind, verlieren Sie den Anschluss. Die Nachwuchsgewinnung ist schwierig, die wenigen Jungen, die wir ausbilden, wandern oft nach der Lehre in andere Branchen ab. Mir war klar, dass ich mal der sein werde, der den Schlüssel rumdreht in der Firma.“ Gulde Druck ging 2024 in Insolvenz; Peter Gulde wirkt nicht bitter. Er hat, soll man es so formulieren, Glück im Unglück gehabt. Er ist im Vertrieb von Beltz Grafische Betriebe (Bad Langensalza) angestellt, arbeitet vom Homeoffice in Tübingen aus, akquiriert Aufträge und betreut Kunden – Kunden wie den vergleichsweise kleinen Berenberg Verlag. „Wenn Christine Wunnicke den Preis bekommen hätte, hätten wir sofort anfangen können zu produzieren“, sagt Peter Gulde, „auf einem Standardmaterial“.

Was die Lage derzeit so schwer beherrschbar macht, ist ein Mix aus vielen Verwerfungen: Nach einem Druckereisterben auf Raten in den letzten 30 Jahren ist der Druckmarkt extrem konsolidiert. Fällt ein großer Anbieter aus, wird es eng. Im Sommer machte CPI, der größte Player auf dem Belletristik-Markt, Ebner & Spiegel in Ulm dicht. Die Folge: Große Publikumsverlage haben ihre Titel nicht mehr untergebracht – plötzlich war statt just in time von bis zu drei Monaten Lieferzeit die Rede. Auch bei Peter Gulde klopften plötzlich Verlage an, an die er vorher nicht im Traum gedacht hatte. Doch für Riesenauflagen ist Beltz eigentlich nicht ausgelegt. „Wir konnten helfen, wenn es gepasst hat“, sagt Peter Gulde salomonisch. Nicht wenige Indie-Verlage suchen ihr Glück inzwischen im Ausland – was nicht vor unliebsamen Überraschungen schützt, wie Transit-Verleger Rainer Nitsche zu berichten weiß. „Großmütter“, der Roman der in Luzern geborenen Melara Mvogdobo, einer Autorin mit kamerunischen Wurzeln, ging nach der Nominierung für den Schweizer Buchpreis durch die Decke. Transit hat drei Auflagen bei verschiedenen lettischen Druckereien vom Band gehen lassen, die vierte war am Tag der Auslieferung praktisch schon wieder vom Markt gefegt. „Zur Buchmesse sollten wir eigentlich 4.000 Exemplare bekommen, aber die Letten liefern jetzt erst im November.“ Der Grund ist wohl ein Großauftrag eines deutschen Publikumsverlags. „Inzwischen musst du mit Zeit pokern“, stöhnt Rainer Nitsche. „Das mit dem Geld ist fast nebensächlich geworden.“

Stefanie Schelleis

Stefanie Schelleis

„Jetzt macht die Messe richtig Spaß“, sagt Stefanie Schelleis. Die Herstellungsleiterin des Hanser Verlags kann durchatmen: Am Messe-Mittwoch sind 10.000 Exemplare von Dorothee Elmigers „Holländerinnen“, dem Gewinner-Titel des Deutschen Buchpreises, fertig geworden. Der Nachschub rollt. Heute, zu Beginn der Nach-Buchmesse-Woche, werden von GGP 100.000 Elmiger-Exemplare ausgeliefert. Wie alle anderen Shortlist-Verlage hatte auch Hanser einen Slot für den potenziellen Gewinner reserviert, damit am Montag der Preisverkündung losgelegt werden konnte; bei GGP, einem der großen Anbieter, waren das drei Verlage. „Letztlich ist das leichter zu organisieren als die Reaktion auf den Literaturnobelpreis“, sagt Schelleis. „Da muss man aus dem Stand Backlist-Titel nachdrucken.“ Dass sich im Vorfeld der Verleihung ein unerwartetes „Lieferloch“ aufgetan hatte, die „Holländerinnen“ als einziger Shortlist-Titel in den Buchhandlungen nicht sichtbar war, empfindet Stefanie Schelleis als „bitter“.   

Die Ursachenforschung ist alles andere als einfach – es gibt nicht mehr nur einen Grund, warum etwas nicht funktioniert. Von der CPI-Schließung in Ulm und dem Wegfall von 1c-Kapazitäten hatten wir schon gesprochen. Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Alle Verlage disponieren seit einiger Zeit sehr vorsichtig. Mehr Aufträge mit kleineren Auflagen bedeutet jedoch, dass sich für die Druckereien das Verhältnis zwischen Rüst- und Produktionszeit deutlich verschlechtert hat. Verdoppelt ein Verlag die zunächst überschaubar angesetzte Auflage seines Spitzentitels in einem Anfall von Wagemut, bildet sich schnell ein Rückstau. Dazu kommt, dass sich in diesem Jahr die Drucktermine von Dan Brown & Co., also potenzieller Bestsellertitel, stark geballt haben. „Momentan haben sich alle Verlage bis unter die Decke bevorratet“, vermutet Schelleis, „es werden schon die Leseexemplare fürs Frühjahr gedruckt. Ich gehe davon aus, dass Anfang des Jahres die Lager voll sind – und es in den Druckereien deutlich weniger zu tun gibt. Die Auslastungs-Extreme in den Druckereien werden immer größer.“ Auf der Messe hat die Hanser-Herstellungsleiterin mit nicht wenigen Druckern und Papierlieferanten über die volatile Situation gesprochen – und wie man es 2026 gemeinsam vielleicht besser wuppen kann.   

Monika Lustig

Monika Lustig

Fische sind die Embleme der Edition Converso, die Meeresgöttin Amphitrite führt im Verlagslogo den Dreizack. „Ein bisschen bin das schon auch ich“, sagt Monika Lustig, die Gründerin und Verlegerin, mit Blick auf Amphitrite, die allein ursprünglich den Dreizack hielt, sich aber vom griechischen Poseidon und römischen Neptun löste. Die Übersetzerin, Herausgeberin und Autorin Lustig, in Karlsruhe geboren, hat auf der Insel Elba, in Sardinien und in Sizilien, in der Emilia-Romagna und der Toskana gelebt; 2018 gründete sie ihre Edition Converso. Ein Verlag, der sich aufmachte, die Kulturen des Mittelmeerraums abzuschreiten und in Belletristik, Essay, erzählendem Sachbuch und Lyrik zu versammeln. Ein ehrgeiziges und – da nur Übersetzungen im Programm sind und die Bücher auch handwerklich solide gemacht sind – kein günstig zu habendes Unterfangen, für das Monika Lustig mehrfach ausgezeichnet wurde: 2021 mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung, zuletzt 2024 mit dem Verlagspreis Baden-Württemberg. Die Ein-Frau-Unternehmerin Lustig hat sich nicht nur um die Inhalte, sondern auch den Vertrieb ihrer Bücher gekümmert, Vertreter, eine professionelle Auslieferung. Der Doppelcharakter der Ware Buch: „Ich habe trotzdem versucht, mich nicht davon auffressen zu lassen.“

Vor gut zwei Jahren reifte die Erkenntnis, dass sie dem wachsenden Kostendruck nicht länger standhalten kann – dass Amphitrite ihren Verlag retten muss. Es gab Gespräche, wieder und wieder, die Stimmungslage wechselte zwischen himmelhochjauchzend und tiefschwarz. Kurz vor Beginn der Buchmesse wurde bekannt, dass Converso als Reihe innerhalb der Friedenauer Presse eine neue Heimat findet: 15 Titel aus der Backlist werden übernommen, zunächst sollen zwei neue Bücher im Jahr erscheinen, Monika Lustig kann als Herausgeberin weitermachen. Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz Berlin, der seinerseits die Friedenauer Presse vor einigen Jahren übernommen hat, wollte „angesichts der wirtschaftlich einengenden Gesamtlage“ kein weiteres Imprint, hält die gefundene Lösung aber für ideal. Sowieso ist er der Meinung, dass „in diesen Zeiten neue Formen der Kooperation“ unbedingt nötig seien. Wieder eine Koje weniger in den Independent-Gängen der Buchmesse; von der „Bedrohung der Einzelverleger“ sprach die F.A.Z. in einem Leitartikel zu Messebeginn. Die Bücher, die Autoren leben. Monika Lustig sitzt als Übersetzerin am neuen Roman von Fabio Stassi („Bebelplatz“), der im Frühjahr 2027 kommen soll und mit Blick auf die Bücherverbrennung der Nazis 1933 Zensur und die Verfolgung von Literatur weltweit thematisiert. Dazu lektoriert sie ein neues Buch von Stefan Weidner, dessen Mammut-Projekt „1001 Buch. Die Literaturen des Orients“ einst zu den ersten Titeln von Converso gehörte. „Als Andreas Rötzer den Vertrag geschickt hat“, erinnert sich Monika Lustig und zitiert eine sardische Redewendung, „bin ich vor Freude wie eine Bergziege gesprungen“. La felicità di far libri – es geht weiter.