Hanser-Verleger Jo Lendle über ChatGPT & Co.

Kunst und Künstlichkeit oder: Das größte Glück der Maschinen

4. Juni 2025
Redaktion Börsenblatt

Was machen Verlage mit KI und was macht KI mit Verlagen? Hanser-Verleger Jo Lendle über die "Doomsday"-Frage der Gegenwart und einen der frechsten Raubzüge der Menschheitsgeschichte. Ein Text zum 200. Geburtstag des Börsenvereins.

Jo Lendle

Den folgenden Text veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von "Politik & Kultur". Die Zeitung des Deutschen Kulturrats widmet der Buchbranche in der Juni-Ausgabe ein "Special" zum 200. Geburtstag des Börsenvereins. Neben dem Beitrag von Jo Lendle finden sich auf den Seiten beispielsweise Artikel von Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs und Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff sowie Interviews mit Verleger Sebastian Guggolz und Zwischenbuchhändler Stefan Könemann.

"Und wann schreibt die KI eure Bücher?"

Wer als Arzt auf Partys geht, bekommt am Buffet gern mal ungebeten einen eiternden Abszess gezeigt, mit der Bitte um eine kleine Stegreifbehandlung. Wenn es dagegen Verlagsmenschen auf Feste verschlägt, bekommen wir entweder ein unverlangtes Aphorismen-Manuskript zugesteckt – "Immer her damit!" brüllen wir mit möglichst unerschrockenem Lächeln über das munter wummernde "It’s raining men" hinweg –, oder man stellt uns höhnisch die Doomsday-Frage der Gegenwart: "Und wann schreibt die KI eure Bücher?"

Da das meist geschieht, während wir auf der Flucht von der Tanzfläche sind – It’s still raining men –, hilft es, ein paar Antworten zur Hand zu haben.

Hier sind sie:

a) Wahrscheinlich schneller als gedacht. Die KI schreibt sicherlich längst schon Bücher oder braucht zumindest nicht mehr lange dafür – und schreibt dann rasend schnell rasend viele. Und natürlich werden die ein Publikum finden, wobei "natürlich" hier ein leicht verstörender Begriff ist.

Am besten wird das in den Unterhaltungsgenres funktionieren, die ihren Reiz aus der immer neuen Erfüllung alter Erwartungen beziehen. Womöglich entstehen aber sogar verblüffend wirksame Gedichte, einfach weil ein entscheidender Teil des Lyrik-Genusses sich erst in der Lektüre bildet, im eigenen Assoziieren.

b) Sollte das ein oder andere KI-verfasste Buch tatsächlich funktionieren, gibt es dafür einen einfachen Grund: Die Algorithmen sind enorm belesen. Sie verwursten Texte und werfen Sätze aus, die mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit Eindruck auf uns machen. Das größte Glück der Maschinen: Wir lassen uns leicht um den Finger wickeln.

Das größte Glück der Maschinen: Wir lassen uns leicht um den Finger wickeln.

Jo Lendle, Hanser-Verleger und im Börsenverein Vorsitzender des Ausschusses für Verlage

c) All das wäre nicht möglich ohne einen der frechsten Raubzüge der Menschheitsgeschichte. Die KI klaut mit einer Schamlosigkeit, die einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Oder die Wut – farblich macht es keinen Unterschied.

Das gilt für ChatGPT wie für DeepSeek, für Apples AI ebenso wie für Googles Gemini, wie in diesem März eine Studie der Danish Rights Alliance aufdeckte. Eli Collins, Vizepräsident von Google Deepmind, räumte bei einer Anhörung des US-Justizministeriums am 2. Mai 2025 ein, dass Gemini auch dann mit Daten aus Suchergebnissen trainiert werde, wenn Urheber und Verlage es ausdrücklich untersagen.

Am offensichtlichsten wird der Diebstahl beim Mutterkonzern von Facebook, Instagram und WhatsApp: Um seine KI zu trainieren, hat Meta sie zunächst das Internet durchlesen lassen. Schön und gut. Leider wurden die Programme davon nicht intelligent. Dazu braucht es Bücher: Dort gibt es belastbares Wissen und belastbare Sprache. Ohne den Verstand und die Kunstfertigkeit von Menschen keine KI.

Nun hätte Meta eine Lizenz zum Training erwerben können und müssen – das aber war dem Konzern zu aufwendig. Bekannt wurde der Fall, weil im Zuge eines US-Gerichtsverfahrens interne Chatprotokolle öffentlich wurden.

Das Magazin The Atlantic deckte auf, mit welchem abenteuerlichen Trick Meta stattdessen vorging: Unzählige urheberrechtlich geschützte Werke liegen illegal in sogenannten Schattenbibliotheken, eine der weltweit größten ist die russische Plattform LibGen. Sie umfasst mehr als 7,5 Millionen Bücher und über 80 Millionen wissenschaftliche Studien. Ausweislich der Protokolle war es offenbar Mark Zuckerberg selbst, der gegen juristische und ethische Vorbehalte im Unternehmen entschied, auf die Daten zuzugreifen.

In der US-Klageschrift steht, Meta habe "267 Terabyte an raubkopiertem Material" heruntergeladen.

d) Das ist nicht gut.

Die KI klaut mit einer Schamlosigkeit, die einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Oder die Wut – farblich macht es keinen Unterschied.

Jo Lendle

e) Es ist ja nicht so, als würden Verlage keine eigenen Angebote machen. Nur weil wir Bücher schätzen, sind wir noch keine ewiggestrigen Spinner, immerhin macht Lesen neugierig. Hanser etwa verlegt nicht nur Romane, Lyrik und Sachbücher, sondern hat auch einen Fachverlag, in dem unter anderem Grundlagenbücher der Ingenieurwissenschaften erscheinen.

Gerade entwickeln wir einen Chatbot (mehr dazu hier), um dieses Wissen durchsuchbar zu machen – und Antworten zu bekommen, die ausschließlich auf geprüftem, belastbarem Material beruhen, während KIs wie ChatGPT auf so widersprüchliche Informationen zugreifen, dass sie gern mal zu halluzinieren beginnen.

Welcher Brückenbauer aber verlässt sich auf eine nur möglicherweise richtige Antwort? Unser Plan erfuhr einen jähen Schock, als wir feststellten, dass Tausende unserer Bücher in den Schattenbibliotheken abrufbar sind und mit einiger Sicherheit zum illegalen Training der KI verwendet wurden. Angesichts solcher Umstände benötigen Urheber und Verlage die Unterstützung der Politik.

Das wird eine trostlose Welt, in der die KI sich selbst kopiert, mit spiegelnden Oberflächen statt dem Leuchten der Literatur.

Jo Lendle

f) Zur Erinnerung: Das Urheberrecht mag piratistisch gestimmten Menschen wie ein Relikt aus grauer Vorzeit erscheinen. Tatsächlich ist es die Grundlage aller Künste, die das Leben wahrer, schöner und besser machen. Womöglich gehört zu denen am Ende sogar "It’s raining men".

Wenn Kreativität und Klugheit kein Auskommen finden, gehen sie ein. Um das Recht am eigenen Werk sicherzustellen, mussten sich die Menschen in der Antike und im Mittelalter noch mit dem Buchfluch behelfen: Nur die Götter boten Schutz gegen Diebstahl.

Mit Gutenbergs Erfindung stieg die ökonomische Bedeutung von Büchern – und damit auch von Plagiaten. Aber erst mit Einführung des Copyrights im 18. Jahrhundert blühte die Buchkultur auf, weil alle, die dazu beitrugen, etwas davon hatten. Wenn Autorinnen und Autoren, Verlage und Buchhandlungen um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden, trocknet all das aus.

Das wird eine trostlose Welt, in der die KI sich selbst kopiert, mit spiegelnden Oberflächen statt dem Leuchten der Literatur. Eine Landschaft aus Halluzination, Inzucht und Wiederholung – kein schöner Ort. Aber die KI könnte ihn sicherlich aufmunternd tapezieren.