Interview: 20 Jahre Verlagshaus Berlin

"Lyrik, die sich einmischt"

12. August 2025
Jule Heer

Das Verlagshaus Berlin feiert sein 20-jähriges Bestehen. Im Interview sprechen die Verleger:innen Tillmann Severin, Andrea Schmidt und Jo Frank über die Gründung, Veränderungen in der Lyrikszene und die Rolle von Poesie in der Gesellschaft. Dabei geben sie Einblicke in ihre Arbeitsweise, Programmgestaltung und den Umgang mit aktuellen Themen.

Jo Frank, Tillmann Severin und Andrea Schmidt

Jo Frank, Tillmann Severin und Andrea Schmidt

Herzlichen Glückwunsch zum 20-jährigen Bestehen! Wie feiern Sie – mit neuen Büchern, besonderen Lesungen oder Rückblicken auf zwei Jahrzehnte Verlagsgeschichte?

Tillmann Severin: Vielen Dank! Jedes Buch, das aus der Druckerei bei uns im Verlag ankommt ist für uns ein Fest und im 20. Jahr fühlt sich das ganz besonders an! Die ersten zwei Bücher aus 2025 sprechen passenderweise auch sehr für unser Programm: Mit "deine revolution für ungenauigkeit hat zukunftswert" von Alexander Graeff ist das achte Buch eines unserer ersten Autoren erschienen. Gleichzeitig ist mit "Meine Vagina" von Galina Rymbu (übersetzt aus dem Russischen von Tillmann Severin) eine Autorin erstmalig überhaupt in deutscher Übersetzung erschienen.

Andrea Schmidt: Außerdem feiern wir das Jubiläum am 28. November im "Haus für Poesie" in Berlin. Und gerade sind wir in den letzten Zügen der Arbeit an dem neuen Band "Verborgene Landschaften" von Anke Bastrop, deren erster Band "Pyrit" 2011 bei uns erschienen ist. 

Jo Frank: Genau das zeichnet auch unsere Arbeit aus: Autor:innen nach Möglichkeit lange zu begleiten und neue Stimmen zu entdecken. Und so unterschiedlich die Stimmen sind, so sehr lassen sich immer wieder innere Verwandtschaften in den Gedichtbänden finden.

Können Sie uns mitnehmen an den Anfang: Wie und warum ist der Verlag damals entstanden?

Frank: Auf gewisse Weise ist jedes Buch ein neuer Anfang, ein neues Risiko, eine neue Begeisterung, ein neues Bekenntnis. Es gibt unterschiedliche Fassungen der Gründungsgeschichte selbst – und sie sind alle wahr. Letztlich ist die Entstehungsgeschichte die von sehr verschiedenen Menschen, die über eine gemeinsame Idee, dass sie mit Literatur und Illustration gestalten wollten, Freund:innen und Verleger:innen wurden.

Schmidt: Wir wollten gegenwärtige Lyrik zeigen und unsere Freude an Gedichten teilen – zunächst über die "Belletristik. Zeitschrift für Literatur und Illustration". Diese stellten nach 13 Ausgaben ein, weil wir schon längst begonnen hatten, Bücher zu verlegen und uns in Zukunft genau darauf fokussieren wollten.

Der Betrieb hat sich insofern verändert, dass er kleiner geworden ist: weniger Verlage, weniger Buchhandlungen, das wissen wir alle. Aber wir gewinnen immer neue Leser:innen!

Jo Frank

Was hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten an Ihrer Arbeit, in der Lyrikszene und im Literaturbetrieb verändert?

Severin: An unserer Arbeit ändert sich dauernd etwas – allein, wenn wir an die Entwicklungen im Digitalen denken, und wie diese unsere Arbeit verändert haben! Aber im Kern bleibt unsere Arbeit doch ähnlich: Wir arbeiten an Büchern, an Gedichten – gemeinsam mit Autor:innen, deren Texte wir durch den Verlag eine Leser:innenschaft geben möchten.

Frank: Und wir arbeiten daran, immer mehr Leser:innen von der schönsten aller literarischen Formen, der Lyrik, zu begeistern. Der Betrieb hat sich insofern verändert, dass er kleiner geworden ist: weniger Verlage, weniger Buchhandlungen, das wissen wir alle. Aber wir gewinnen immer neue Leser:innen!

Schmidt: Und die Verleger:innen und vor allem Buchhändler:innen, mit denen wir zusammenarbeiten, zeichnet vor allem Leidenschaft aus – für die Literatur, und für das, was Literatur für unser Leben bedeutet und unsere Gesellschaft bedeuten kann. Das gesellschaftliche Umfeld hat sich in den letzten 20 Jahren verändert, und mit dieser Veränderung hat auch unser Arbeiten sich verändert: Wir sind widerständiger geworden, kämpferischer, mutiger.

Gibt es ein Buch oder Projekt aus diesen 20 Jahren, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Frank: Jede:r von uns hat sicher ein anderes und oft wechselndes Buch oder Projekt, das uns in der Rückschau begeistert. Einen besonderen Blick werfen wir immer auf unser Magazin "Belletristik", mit dem das Verlegen für uns begonnen hat. Über die "Belletristik" haben wir Autor:innen und Illustrator:innen entdeckt, mit denen wir bis heute zusammenarbeiten. Das Magazin war für uns als Lernort enorm wichtig: Vom Lektorat, der Gestaltung, der Produktion bis hin zum Vertrieb haben wir an der "Belletristik" das Verlegen gelernt – und eine Idee für unser Programm entwickeln können, die heute unser Arbeiten weiterhin prägt.

Ein Verlag ist aber vor allem ein Ort des lebendigen Diskurses, der Auseinandersetzung, der Diskussion.

Andrea Schmidt

Sie schreiben, Ihre Bücher stehen für Lyrik, die sich einmischt, die Fragen stellt und Antworten sucht. Was bedeutet das konkret und welche Themen bewegen Sie besonders?

Schmidt: Verlage sind mehr als Unternehmen, die Bücher als Produkte verkaufen. Ein Verlag ist aber vor allem ein Ort des lebendigen Diskurses, der Auseinandersetzung, der Diskussion. In den letzten zwanzig Jahren haben sich nicht nur unsere verlegerischen Rahmenbedingungen verändert, sondern auch unsere Gesellschaft. Sie ist enger geworden, aggressiver, ausschließender. Ein Verlag kann mit seinen Autor:innen an der Gestaltung unserer Gesellschaft mitwirken, und gerade die Lyrik als Form, die die Auseinandersetzung mit Sprache, Sprachen und Sprachlichkeit in den Fokus rückt, hat hier mehr Möglichkeiten zur Veränderung, aber auch mehr Verantwortung für unsere Gesellschaft, als es mancherorts angenommen wird.

Severin: Unser Verlagsslogan "poetisiert euch" möchte genau das ansprechen: die aktive Mitgestaltung. Und die Felder dafür zeigen uns unsere Autor:innen auf: Das im Herbst erscheinende Langgedicht "Kreuzfällen" von Tobias Roth und Daniel Bayerstorfer, in dem es um die bayerische Tradition des Absägens von Gipfelkreuzen geht, kann als Fundamentalkritik an einem Weltbild gelesen werden kann, das sich die Natur Untertan macht. Ein ganz anderer Blick auf die Natur spielt in "Verborgene Landschaften" von Anke Bastrop eine Rolle. Hier stellt sich eher die Frage, wie Landschaften ihren Zauber erhalten, ohne mit problematischer Ideologie aufgeladen zu werden.

Frank: Max Czolleks Gedichte, die Themen wie Erinnerungskultur aufgreifen; Martin Piekar, der nach der Rolle von KI für unser Leben fragt; Anna Julian Mendliks Gedichte, die danach fragen, wie queeres Leben, queeres Lieben, queeres Begehren nicht weiter verdrängt werden können; Ricardo Domeneck, der sich mit unterschiedlichen Formen der Kolonialisierung auseinandersetzt – die Beispiele lassen sich immer weiter fortsetzen. Aber auch unsere Essay-Reihe über Lyrik, die "Edition Poeticon", die mit wichtigen Begriffen wie z. B. Scham, Grenze, Queer, Trauer, Sport usw. Diskurse in der Gesellschaft aufgreift und weiterträgt, wird von Menschen mit gigantischen Lyrikregalen genauso gelesen wie von Leser:innen, die sich erst mal für die Begriffe interessieren.

Verlagsraum

Verlagsraum

Was zeichnet aus Ihrer Sicht gute Lyrik heute aus?

Frank: Als Verlag haben wir uns darauf verständigt, Stimmen zu veröffentlichen, die sowohl inhaltliche Haltungen in die Lyrik einbringen als auch etwas Aufregendes mit der Form machen. So wie sich die Themen unserer Zeit verändern, verändert sich auch der sprachliche Ausdruck, verändert sich die Lyrik, das macht unsere Arbeit für uns so spannend! 

Severin: Wichtig für unsere Programmarbeit ist, dass wir die Entscheidungen zu dritt als Verleger:innen treffen und häufig unterschiedliche Positionen vertreten. Dadurch ist das Programm auch immer in Bewegung.

Wir glauben, dass jeder Text seine ganz eigene Gestaltung braucht, um Leser:innen möglichst nah in die Texte zu begleiten

Tillmann Severin

Welche Rolle spielt die Gestaltung Ihrer Bücher und wie entsteht die Verbindung zwischen Form und Inhalt?

Schmidt: Wir behandeln die Texte unserer Autor:innen auf allen Ebenen so, dass wir höchste Ansprüche an sie und auch an uns stellen: das Lektorat ist so intensiv, wie bei kaum einem anderen Verlag möglich, die Gestaltung in allen Dimensionen genauso: die Überlegung, welche Typografie zu welchem Band passt, wie Illustrationen einen Band bereichern können, wie der Satzspiegel genau den Text trifft, welche Papiere gewählt werden, welche Bindungen – all das ist im Verlagshaus enorm wichtig, und die Gestaltung entsprechend!

Severin: Wir glauben, dass jeder Text seine ganz eigene Gestaltung braucht, um Leser:innen möglichst nah in die Texte zu begleiten, und da ist eine Gestaltung, die im Text verwurzelt Zuwendung an die Leser:innen zeigt, für uns entscheidend.

Sie kritisieren, dass Lyrik in vielen Medien wenig Raum bekommt. Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit Lyrik wieder stärker wahrgenommen wird?

Frank: Die Lyriklandschaft ist groß und vielfältig. Es gibt so viele verschiedene gegenwärtige Stimmen und Gedichtbände. Es braucht auch Mut, diese zu entdecken und sich auf sie einzulassen – nicht um alles gut zu finden, sondern um dem zu folgen, wo Leidenschaft ist. Einer unserer Plakat-Slogans lautet: "Es geht um Lyrik, habt keine Angst". Für uns sind Gedichte Universen auf kleinstem Raum, die auf ganz eigene Art vielfältigste Räume eröffnen, Geschichten erzählen, Ideen verhandeln, Sprache und Sprachen neu denken und Interpretationen zulassen.

Schmidt: Um die "Angst vor Gedichten" in "Freude an Gedichten" zu verwandeln, haben wir uns verschiedene Strategien ausgedacht: z. B. haben wir seit einigen Jahren ein Lyrik-Abo im Angebot. Hier bekommen unsere Abonnent:innen immer das aktuellste Buch frisch aus der Druckerei geliefert. Jedes einzelne Abo ermöglicht eine größere Planungssicherheit für unser Programm. Das erste Paket packen wir liebevoll selbst: mit Buch, Stofftasche, Aufklebern und Postkarten.

Severin: Außerdem haben wir ein Jubiläums-Paket für Buchhändler:innen entwickelt – sozusagen ein Lyrik-Schnupper-Angebot zu besonderen Jubiläumskonditionen mit vielen Merch-Produkten für die Buchhandlung. Das soll die Vermittlungsarbeit von Buchhändler:innen für Kund:innen erleichtern. Das Paket hat bis jetzt einen großen Zuspruch. Wir werden es noch bis Ende des Jahres laufen lassen.

Was wünschen Sie sich für die kommenden 20 Jahre für Ihren Verlag und für die Lyrik im deutschsprachigen Raum?

Frank: Konkret wünschen wir uns, dass sich die Überlegungen zu einer etwaigen strukturellen Verlagsförderung von Skizzen weiter zu konkreten Programmen entwickeln. Das würde die vielfältige Lyrik-Landschaft in Zeiten steigender Kosten an allen Enden sichern und gleichzeitig zeigen, dass Literatur einen Wert für unsere Gesellschaft hat, der sich auch in Zahlen widerspiegelt.

Schmidt: Wenn es die kommenden 20 Jahre für den Verlag gibt, dann ist das schon viel. Für die Lyrik wünschen wir uns viele Menschen, die leidenschaftlich gern Gedichte lesen. Menschen, die die Arbeit an und mit Sprache mit uns Verleger:innen teilen und sie dazu anregen, Teil einer Veränderung zu sein. Wir wünschen uns mutige Buchhändler:innen, die ihre Lyrik-Regale vergrößern und mit uns gemeinsam die Freude an der kleinsten literarischen Gattung teilen, sei es in Form von Buchregalen oder gemeinsamen Veranstaltungen. Das ist das Wichtigste. Poetisiert euch.